Nachtkrieger
Abend,
dachte er lächelnd.
Brand hatte nur noch wenige Augenblicke. Die Sonne würde jeden Moment aufgehen, und er traf die letzten Vorbereitungen für die Verwandlung, als er plötzlich das Knacken von Zweigen am Talhang über sich hörte.
»Wer ist dort?« Hastig drehte er sich um und suchte das dichte Unterholz ab, konnte aber niemanden entdecken. Panik stieg in ihm auf, und sein Herz klopfte wie wild. »Zeig dich, wer immer du bist!«
In dem Moment, als die erste Welle des Schmerzes ihn überlief, trat eine Gestalt aus dem Dickicht am Talrand heraus. »Ich seid zurück,
Messire!
«
Merewyn!
Verwundert betrachtete sie ihn, und ihr Lächeln verblasste. »Ihr habt ja gar nichts an.«
»Lauf!«, schrie Brand, als ihn die zweite Schmerzwelle erfasste und sich spitze Krallen durch seine Fingerspitzen bohrten. »Lauf!«
Aber sie stand da, wie entrückt, schaute zu, als ihn die schmerzhafte Verwandlung zu Boden zwang. Er versuchte, Merewyn abermals etwas zuzurufen, doch die Worte wurden zu einem lauten Brüllen. So laut, dass Merewyn endlich aus ihrer Starre erwachte. Das Letzte, was er sah, bevor der Bär vollkommen von ihm Besitz ergriff, waren ihre Augen – weit aufgerissen vor Entsetzen und panischer Angst. Dann vernebelten sich seine Sinne, und der Bär begann zu jagen.
Kapitel 24
A ls der Bär Merewyn witterte, richtete er sich auf, stand wie der Mann, der er wenige Augenblicke zuvor noch gewesen war.
»Mutter, beschütze mich!«, sandte Merewyn ein Stoßgebet zum Himmel.
Ihre letzte Stunde schien gekommen, denn ihr war bewusst, dass es unmöglich war, einem solchen Tier zu entkommen.
Trotzdem rannte sie los, den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war, um die letzten Sekunden dieses kostbaren Lebens nicht zu vergeuden. Der Bär fiel hinter ihr auf alle viere. Es klang wie ein Donnerschlag, und Merewyn rannte, so schnell sie konnte. Atemlos schlug sie sich durch den dichten Nebel, der sie nahezu verschlang.
Der Nebel.
Vielleicht war das die Rettung. »Mutter, bitte steh mir bei!«
Hastig sah Merewyn sich um, entdeckte dann einen riesigen Baum. Er war halbtot, doch er stand noch. Die Rinde war geborsten, der Stamm hohl. Merewyn zwängte sich hinein, so weit der Raum es zuließ – kein sehr sicheres Versteck, aber besser als nichts. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Sinne zu beruhigen.
Im Flüsterton beschwor sie mehr Nebel herauf. Die Schwaden zogen um sie herum, Dunkelheit umgab sie. Der Bär brüllte wieder, nur wenige Meter von ihr entfernt, während sie ohne Unterlass mit ihrer Beschwörung fortfuhr, bis der Nebel um den alten Baum so dicht war, dass er jedes Geräusch verschluckte und sie frösteln ließ trotz der Sommerwärme.
Schnaufend umrundete der Bär den Baum auf der Suche nach seiner Beute, die er roch, aber nicht sah. Er schnüffelte an der Spalte, und Merewyn stieg der Geruch nach einem wilden Tier in die Nase. Sicher roch er sie ebenfalls. So weit sie konnte, zog sie sich in den Hohlraum zurück und kniff die Augen fester zu, wie ein Kind, das sich hinter seinen geschlossenen Lidern verstecken wollte. Sie durfte ihn nicht ansehen, denn vor lauter Angst würden ihre magischen Kräfte versagen. Und dann wäre sie verloren.
Ganz in der Nähe ertönte der Schmerzensschrei eines Tieres, und der Bär trottete davon, um eine leichtere Beute zu stellen. Sein Tapsen verhallte langsam im Wald. Doch Merewyn hielt sich am Nebel fest und in ihrem hohlen Baum versteckt, denn jedes Geräusch konnte bedeuten, dass der Bär zurückkam. Erst als die Sonne durch die Krone hindurchschien, ließ sie den Nebel los, auf dass er sich auflöste, und kroch zaghaft hinaus ans Licht, voller Angst, jeden Moment von scharfen Krallen aufgeschlitzt zu werden.
Stattdessen war dort Sir Ari. In wenigen Metern Entfernung saß er auf seinem Pferd, mit einem zornigen Ausdruck in seinem hübschen Gesicht. Er ritt zu ihr herüber und streckte eine Hand aus. »Sitz auf, Heilerin, bevor er zurückkommt.«
Zitternd vor Angst und Erschöpfung ließ Merewyn sich in den Sattel helfen. »Ich war dabei, Morgentau zu sammeln, als … Ich wusste ja nicht … Ich muss ihm helfen.«
»Du kannst ihm nicht helfen«, sagte Ari in bitterem Ton und dirigierte sein Pferd in Richtung ihres Cottage.
»Die Mutter glaubt, dass ich das sehr wohl kann«, entgegnete Merewyn, denn sie war sich sicher, dass es genau das war, was die Götter von ihr verlangten. »Welche böse Macht hat ihn mit diesem Fluch belegt?«
»Es ist
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