Nachtkrieger
Abend hatte de Vassy auf dem gleichen Weg den Wald verlassen. Sogleich war Neville der Sache nachgegangen und hatte im Unterholz zwei Pferde entdeckt – das von Lord Ivo und das von Sir Brand. Die Pferde befanden sich hinter einer grobgezimmerten Einzäunung, doch von den beiden Männern war weit und breit nichts zu sehen. So war Neville an diesem Abend zwecks weiterer Nachforschungen zurückgekehrt. Sein eigenes Pferd hatte er hinter den Bäumen versteckt und dann besagte Eibe erklommenen, auf der er nun hockte. Während er wartete, zählte er im Stillen sämtliche Erniedrigungen auf, die er von de Vassy hatte hinnehmen müssen. Mindestens vier waren es, eigentlich sogar fünf, wenn er die Reaktion seines Vaters mitzählte. Unwillkürlich fuhr er mit der Zunge über die Narbe an seiner Lippe, die er dem alten Esel verdankte, der ihm ins Gesicht geschlagen hatte, bevor er ihn fortschickte, »damit er sich besserte«.
Ein paar Wochen lang war er rastlos durchs Land gezogen, auf der halbherzigen Suche nach einem Lord, der einen Ritter suchte. Und in dieser Zeit hatte er stetig seine Rachegelüste genährt, bis sie unerträglich wurden. So war er schließlich in Morpeth gelandet, noch immer ohne Dienstherrn, aber nur einen Katzensprung von Alnwick entfernt. Nach wie vor hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie er seinen Durst nach Rache stillen sollte – ein Mord schien ihm viel zu milde für de Vassy und gleichermaßen zu gefährlich für sich selbst. Doch er zweifelte nicht daran, dass ihm im richtigen Moment das Passende einfallen würde.
Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie Sir Ari sich wachsam in alle Richtungen umsah und vom Pferd stieg. Hastig sattelte er das Pferd ab und führte es zu den anderen beiden in den Pferch. Sattel und Zaumzeug verstaute er unter einem umgefallenen Baum – und begann zu Nevilles Entsetzen, sich auszuziehen.
Das war es also, was de Vassy und seine beiden Kumpane Tag für Tag im Wald trieben: Unzucht! Neville konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Dem König eilte zwar der gleiche Ruf voraus, doch das hieß noch längst nicht, dass er ein solches Verhalten bei seinen Gefolgsleuten tolerierte. Gespannt harrte Neville aus, um bezeugen zu können, dass Lord Ivo und Sir Ari es miteinander trieben. Oder taten sie es etwa zu dritt? Ein plötzlicher Schrei in der Höhe schreckte ihn auf, und beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren.
»Da bist du ja«, hörte er Sir Ari sagen, als ein Adler vom Himmel schoss und sich auf den Waldboden setzte. »Ich dachte schon, du kämest zu spät.«
In dem Moment, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, ertönte gequältes Stöhnen. Es steigert sich zu einem Schmerzensschrei, der schriller wurde, bis er geradezu unmenschlich klang. Sir Ari begann, zu schrumpfen und sich dunkler zu färben, während der Adler größer wurde und heller.
Heilige Mutter Gottes! Was war denn das?
Die beiden Gestalten verwandelten sich im Zwielicht, eine Gestalt wurde menschlich, während die andere die Gestalt eines Vogels annahm, als ob sie die Seelen tauschten. Schlotternd vor Angst sah Neville zu und hatte Mühe, sich nicht in die Hosen zu machen.
Unglaublich! Entsetzlich!
Und doch so wirklich. Fassungslos klammerte Neville sich an den Stamm der Eibe, bohrte seine Finger in die Borke, bis sie bluteten, während unter ihm laute Schmerzensschreie ertönten. Auf einmal war es vorbei – ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte. Es herrschte Totenstille, bis auf Nevilles rasend hämmerndes Herz.
Splitternackt hockte de Vassy auf dem Boden, dort wo der Adler gelandet war. Und an der Stelle, wo Sir Ari gestanden hatte, saß ein Rabe und schlug mit den Flügeln. Er hüpfte herum, erhob sich in die Luft und zog träge seine Kreise, während de Vassy sich aufrappelte und seine Kleidung aus verschiedenen Verstecken hervorholte. An den Stamm der Eibe gepresst, wünschte Neville, er wäre unsichtbar, und flehte um Schutz gegen diese beiden Dämonen.
De Vassy unter ihm – nun wieder in voller Montur – sattelte eilig sein Pferd und anschließend das von Sir Brand. Dann rief er den Raben herbei. Dieser setzte sich auf seine Schulter, und de Vassy ritt in Richtung Alnwick davon, wobei er beinahe den Baum streifte, auf dem Neville hockte.
Nevilles Gedanken überschlugen sich. Er konnte sich keinen Reim auf das merkwürdige Geschehen machen, das sich kurz zuvor vor seinen Augen abgespielt hatte. Möglicherweise gab es daran auch nichts zu
Weitere Kostenlose Bücher