Nachtkrieger
das Gefühl, damit stimmt etwas nicht.«
Und damit hatte er recht. Der Nebel, der im Mondlicht durch die Bäume zog, hüllte lediglich die Nordseite der Anhöhe ein, wo der Stein stand. Ivo fiel ein, was Merewyn ihm seinerzeit über den Morgennebel gesagt hatte. Da die Zeit gedrängt hatte, zu Alaida zurückzukehren, hatte er Merewyns Sorge kaum Beachtung geschenkt. Aber nun …
Sie ritten in Richtung Anhöhe, am Waldsaum entlang, bis sie zu einem schmalen Pfad gelangten. Am Ende des Wegs leuchtete der Nebel schwachgelb wie der Widerschein eines Feuers. Brand wies auf die schimmernden Schwaden und tippte sich ans Ohr. Ivo neigte den Kopf und lauschte angestrengt.
Schwach ertönte der liebliche Klang eines Schlaflieds, und die dazugehörige Stimme kam ihm bekannt vor. Ivo war erleichtert. Wenn Bôte am Feuer saß und Schlaflieder summte, konnte das nur bedeuten, dass es Alaida und dem Baby gutging. Er bedeutete Brand abzusitzen, und nachdem sie ihre Pferde an einem Baum festgebunden hatten, gingen sie in den Nebel hinein. Der Rabe blieb zurück und setzte sich auf einen Ast.
Die Nebelschwaden verschlangen das Mondlicht, so dass sie kaum die Hand vor den Augen sehen konnten, und so tasteten sie sich an den Bäumen entlang. Ivo nahm einen tiefen Atemzug, und schmeckte die feuchte Luft – bitter, kalt wie Lehm. Und seine Frau und seine Tochter befanden sich mittendrin. Er hätte auf Merewyn hören sollen. Er hätte ihre Hilfe annehmen sollen.
Auf einmal wurde der Pfad breiter, und die gespenstischen Bäume boten keine Orientierung mehr. Ivo tastete sich vorwärts, überzeugt, dass der Stein nicht mehr weit entfernt war, bestrebt, Alaida und Beatrice zu finden und von diesem Ort fortzubringen. Bôtes Schlaflied war nun deutlicher zu hören, und der Nebel leuchtete heller, schien zu brennen.
Ivo trat ins Leere.
Er stürzte einen unsichtbaren Abhang hinunter und schlug hart auf. Einen kurzen Moment später prallte Brand gegen ihn. Atemlos rappelten sie sich auf und zogen ihre Schwerter.
Sie standen vor dem Eingang einer niedrigen aus dem Fels gehauenen Höhle, die vom Schein eines unheimlichen Feuers in der Mitte beleuchtet wurde. Bôte stand vor der Feuerstelle, wiegte Beatrice in ihren Armen und summte ein Schlaflied. Daneben lag Alaida, reglos und auf frisches Heidekraut gebettet.
Bôtes Gesang verklang. Mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen sah sie Ivo und Brand an. »Ihr habt uns also gefunden. Das ist gut. Ich habe lange auf Euch gewartet, sehr lange.«
Ivo beschlich Unbehagen. Er ging einen Schritt in die Höhle hinein und fragte: »Amme, ist alles in Ordnung?«
»O ja«, antwortete Bôte und streichelte Beatrice’ Wange. »Sie ist ein so friedliches Kind. Sie hat nicht ein einziges Mal geweint.«
»Und meine Ehefrau?«
»Wie Ihr seht, schläft sie«, sagte Bôte.
Brand musterte die Felswände. »Wo genau sind wir hier?«
»Unter dem Stein«, antwortete Bôte und wiegte Beatrice weiter in ihren Armen. »An dem Ort, an den Sir Egbert den Drachen gejagt hat. Aber das ist natürlich nur ein Märchen. Es hat nie einen Drachen gegeben.«
»Und kein Herz«, sagte Brand. »Das Geräusch in dem Brunnen ist nichts weiter als das Rauschen des Meeres.«
»Nur Männer, die ihr halbes Leben auf dem Meer verbracht haben, können das wissen«, sagte Bôte mehr zu sich selbst als an Ivo und Brand gerichtet. »Aye, es ist die Brandung, aber sie klingt ganz nach einem schlagenden Herzen.«
Ivo steckte sein Schwert zurück in die Scheide und kniete sich vor seine Frau. »Alaida?«
»Wollt Ihr sie wirklich wecken?«, fragte Bôte. »Sie wird nicht erfreut sein, Euch zu sehen.«
Vermutlich hatte die Alte recht. Dennoch rüttelte Ivo Alaida wach. »Wach auf, mein Herzblatt.«
»Ivo?« Schlaftrunken drehte Alaida sich um und öffnete die Augen. Lächelnd sah sie Ivo an. Doch sobald sie richtig wach war, erstarb ihr Lächeln, und sie wich zurück. Den Rücken an den Fels gedrückt, rief sie: »Was tust du hier? Geh weg!«
Ivo streckte seine Hände aus, damit sie sah, dass er ihr nichts antun wollte. »Ich möchte dich und Beatrice nach Hause bringen.«
»Nein. Ich habe gesehen, was du bist.« Alaidas ängstlicher Blick brach Ivo beinahe das Herz. »Ich habe gesehen, wie du dich in diesen … in dieses Ungeheuer verwandelt hast.«
»In einen Adler. In den Adler, der dir so viel bedeutet hat, in den Adler, der über dich gewacht und dich vor de Jeune beschützt hat. Komm mit! Ich werde euch nach Hause
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