Nachtkrieger
Himmel zu fallen, und er musste sich beeilen.
Er würde keine Gelegenheit haben, sein Gedicht vorzutragen, aber als Rabe konnte er sich die Hochzeit, für die er gerade so sehr geworben hatte, immerhin ansehen. Gedankenverloren starrte er auf den Boden des Eimers und dachte darüber nach, welch ungewöhnlichen Nachmittag er verbracht hatte, als das Wasser plötzlich schwarz wurde und wirbelte. Aris Herz begann wie wild zu schlagen.
Eine Vision.
In seiner Jugend waren ihm Visionen häufiger erschienen – sehr zu seinem Verdruss, denn Magie war die Domäne der Frauen und passte nicht zu einem Krieger –, waren aber seit Odinsbrigga selten aufgetreten. Er hatte seit Jahren kein Gesicht mehr gehabt. Einen Augenblick lang wehrte er sich dagegen und weigerte sich hinabzusteigen, dorhin, wo die Bilder lebten, aber der Schleier senkte sich über ihn.
Sich in das Unvermeidliche fügend, beruhigte er sich und löste sich los von der Außenwelt, entrückte, schlafähnlich. Bilder erschienen auf der spiegeligen Wasseroberfläche. Er griff nach ihnen, aber sie bewegten sich, waren flüchtig, zu substanzlos, um greifbar zu sein.
Ein Vogel. War er es, oder war es Ivar? Ein Adler. Und dann eine Frau, zunächst nur undeutlich zu erkennen. Vielleicht Alaida. Oder doch nicht? War das ein Kind? Dann wieder der Adler.
Die Bilder blieben nicht stehen. Sie strudelten, wirbelten ineinander, ohne dass er eine Chance hatte, ihre Bedeutung erfassen zu können. Er versuchte wieder, ein Bild zu erhaschen. Wenigstens eins.
»Sir? Ist Euch nicht wohl?«
»Wie bitte?« Sogleich verschwamm die Vision und verschwand. »Nein, nein. Alles in Ordnung«, sagte Ari hastig.
»Ihr habt so lange vor Euch hin gestarrt. Ich dachte schon, Ihr hättet irgendeine Art Anfall.«
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte Ari und hob den Kopf, während der Nebel um ihn herum sich lichtete. Die Sonne stand noch tiefer. Sie war nur noch einen Fingerbreit über dem Horizont. Er hatte zu viel Zeit verloren, und das für nichts und wieder nichts.
Enttäuscht ließ er den Eimer fallen, nahm dem Mann die Zügel aus der Hand und schwang sich in den Sattel. Als er durch das Tor preschte, rasten seine Gedanken. Vor Anbruch der Dunkelheit war noch zu viel zu tun. Er musste Brand und Ivar erreichen. Er musste ihnen eine Nachricht zukommen lassen, bevor er seine Gestalt wechselte.
Doch das Wichtigste war: Er musste herausfinden, was die Götter ihm mit dieser vermaledeiten Vision hatten mitteilen wollen.
Kapitel 4
E in letzter Streifen Abendrot erhellte den Horizont, als Ivo und Brand die unzivilisierte Welt verließen und dem Grund von Alnwick entgegenritten. Endlich wieder in menschlicher Gestalt hatte Ivo es eilig, hatte sich so hastig in seine Kleidung begeben und seinen Hrimfaxi nach Alnwick getrieben, dass sein Freund ihm kaum folgen konnte. Nun aber machte er halt am Rand des Obstgartens, wo die von Rauhreif bedeckten Bäume sich wie Skelette auf dem Abendhimmel abzeichneten.
Brand schloss zu ihm auf, bereit, nach seinem Schwert zu greifen. »Was ist los?«, fragte er.
»Nichts. Ich frage mich lediglich, ob ich nach ihr suchen muss.«
»Sie wird dort sein. So einfach würde Ari sie nicht entkommen lassen.«
»Er musste vor Anbruch der Dunkelheit verschwinden«, sagte Ivo und warf einen Blick auf den Raben, der auf Brands Schulter saß. »Sie hätte genügend Zeit gehabt, um davonzulaufen.«
»Dann werden wir sie eben wieder einfangen.«
»Ich möchte keine Gefangene. Ich wünsche mir eine Frau, die freiwillig bei mir bleibt.« Nach wie vor empört über die unmögliche Lage, in die William ihn gebracht hatte, schüttelte Ivo den Kopf. Er wies auf das Stück Baumrinde, das er im Ärmel seines Gewands verstaut hatte, und sagte: »Lass uns einen besser beleuchteten Ort finden, damit wir Aris Nachricht lesen können.«
Als sie sich dieses Mal dem Tor von Alnwick näherten, wurde es sogleich geöffnet, und ein halbes Dutzend Männer trat hervor, um sie zu begrüßen. Eine weitere Gruppe von etwa vierzig Männern stand um ein Feuer im Innenhof herum. Ivo brauchte einen Moment, bis ihm klarwurde, dass es sich um die Freien des Dorfes handelte, die gekommen waren, um an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilzunehmen, aber ebenso, um zu sehen, wem der König Gilbert Tysons Grundherrschaft übereignet hatte. Er begrüßte alle und erkannte sogleich Wat, den Gutsverwalter, der am Abend zuvor auch in der Halle gewesen war, und drehte sich dann seinem Haushofmeister zu.
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