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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Sätze noch einmal durch den Kopf gehen lassen, dann fragte ich: »Ingrid, was hast du eigentlich alles mit dem Arzt besprochen?«
    »Haben nichts besprochen«, antwortete sie. »Der hat mir halt gesagt, dass es schlecht um Mama steht und dass wir uns beeilen müssen, wenn wir uns verabschieden wollen. Keine wirklichen Details. Er meinte, das machen wir, wenn wir da sind. Ich habe auch gar nicht richtig zugehört.«
    Ich nickte.
    »Ich habe da auch noch mal im Krankenhaus angerufen, nachdem du dich bei mir gemeldet hast«, sagte ich. »Hab mir die Nummer übers Internet rausgesucht. Irgendwie habe ich das nicht ausgehalten abzuwarten.«
    Als ich nicht fortfuhr, fragte Ingrid: »Und?«
    »Was denkst du denn, was es heißt, wenn der Arzt dich fragt, ob wir uns von Mutter verabschieden wollen?«
    Ingrid zuckte mit den Schultern wie ein kleines Kind. Wie früher, wenn ich sie vom Kindergarten abgeholt hatte und sie mal wieder nicht wusste, wo ihre Schuhe abgeblieben waren.
    »Ingrid, Mutter ist hirntot. Die wird künstlich am Leben gehalten, und sobald wir ankommen, hören sie auf, sie zu ernähren, und geben ihr nur noch Wasser und Schmerzmittel, bis sie tot ist.«
    Ingrid gab einen erstickten Laut von sich, als habe sie einen Schlag in den Magen bekommen, und Tränen schossen ihr in die Augen. Ich griff ins Lenkrad.
    »Da kommt gleich eine Ausfahrt«, sagte ich. »Nimm mal den Fuß vom Gas.«
     
    Wenig später standen wir auf einem weitläufigen Parkplatz voller LKWs. Ingrid lehnte wimmernd am Auto und nestelte an einer Packung Taschentücher herum. Eine der Laternen, die den Parkplatz in oranges Licht tauchten, flackerte, und in einiger Entfernung sausten Autos vorbei. Meine Beine streckend, |293| zündete ich mir eine Kippe an. Aus einem der LKWs neben uns war das Geplärre eines Fernsehers zu hören. Nach einer Weile sagte Ingrid: »Ich habe den Arzt nicht mal gefragt, woher er meine Nummer hat.«
    »Mutter hatte deine Nummer und deinen Namen auf einem Zettel in ihrem Portemonnaie.«
    »Was?«
    »Meinte der Arzt. Die haben einfach auf gut Glück bei dir angerufen, weil es alles war, was sie hatten.«
    »Mama hatte meine Telefonnummer?« Ingrid schüttelte den Kopf und kicherte. »Um dich zu finden, habe ich auch bloß im Internet ins Telefonbuch geguckt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist«, sagte sie und wiederholte schluchzend: »Ich habe einfach nur ins blöde Telefonbuch geguckt. Das hat keine zwei Minuten gedauert, dich zu finden, bei unserem bescheuerten Nachnamen. Warum hat so’n Typ wie du eigentlich einen Telefonbucheintrag?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hatte ich angekreuzt, dass ich nicht gelistet werden will, als ich umgezogen bin und den Internetanschluss bekommen habe.«
    Ingrid lachte unter Tränen und fingerte ein weiteres Taschentuch aus der Packung.
    »Hast du mal versucht, mich oder Mama zu finden?«, wollte sie dann wissen, aber ich schüttelte den Kopf. »Oder unsere Großeltern?«, fragte sie. »Scheiße, ich hätte so gerne richtige Großeltern.«
    »Die sind tot«, behauptete ich.
    »Woher weißt du das denn?«
    »Franz hat mal erzählt, woher Mutter kommt, und dann habe ich«, ich zögerte, »dann habe ich halt auch ins Telefonbuch von dem Ort geguckt. Da gab es unseren Namen nicht mehr.«
    »Wo haben die gewohnt?«
    »So’n Kaff im Ruhrpott.«
    »Und warum hast du nicht nach mir gesucht?«
    |294| »Warum hast du nicht nach mir gesucht?«, fragte ich zurück.
    »Na, weil ich Schiss hatte. Tu doch nicht so! Du hast doch auch bloß Schiss gehabt. Genau vor diesem Scheiß hier. Jetzt steht man da, will vom anderen wissen, wer er ist, und muss dann plötzlich …«, sie schnappte nach Luft und fing wieder heftiger zu weinen an, »muss dann plötzlich auch über sich selbst nachdenken, wer man ist, und … und was weiß ich denn, wer ich bin? Scheiße, woher soll ich das denn wissen?!« Der Fernseher im LKW wurde lauter gedreht. »Und irgendwie geht dich das auch alles gar nichts an. Jetzt soll ich einem wildfremden Typen mein Leben erzählen? Wie komme ich denn dazu? Aber aus irgendeinem Grund will ich das ja auch alles von dir wissen. Ich will, dass du mir Sachen von früher erzählst, die ich vergessen habe, aber hören will ich sie eigentlich gar nicht. Und mich interessiert, wie das so gewesen ist im Heim. Ob du da auch mal an mich gedacht hast, oder ob dir das alles egal war, aber ich weiß gar nicht …«, sie machte eine Pause, japste und stotterte weiter: »Ich,

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