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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ich weiß nicht mal, warum ich dir wichtig sein sollte. Nur weil wir Geschwister sind? Müssen wir uns jetzt deswegen …«, sie schüttelte den Kopf, »müssen wir uns jetzt lieb haben oder so’nen Scheiß? Ich weiß gar nicht, ob du mir wichtig bist. Oder was das bedeutet. Und dann fühle ich mich scheiße, weil ich irgendwann gar nicht mehr an dich gedacht habe. Gar nicht. Das war alles wie weggeschaltet. Weg!«
    Mit einem genervten Stöhnen löste sie sich vom Auto, ging auf und ab und putzte sich trötend die Nase, bevor sie einige Schritte vor mir stehen blieb und mir in die Augen schaute. »Du bist wie der Osterhase.«
    Ich starrte regungslos zurück.
    Ingrid lachte auf, aber nur wenige Sekunden später stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. »Du warst wie der Scheißosterhase, habe ich immer gedacht. Den gab es mal, als ich klein war, und irgendwann findet man sich damit ab, dass es |295| ihn auf einmal nicht mehr gibt. War schon schön mit ihm, aber was soll’s? Denkt man halt nicht weiter drüber nach, sondern macht mit dem weiter, was man hat. Wie es eben ist.« Im Lastwagen neben uns wurde das Fenster hochgekurbelt. »Und immer wenn ich mich dann doch mal an irgendwas erinnert habe, an meinem blöden Geburtstag zum Beispiel, habe ich schnell irgendwas anderes gemacht, damit das wieder aufhört. Das sollte einfach nur aufhören.«
    Ingrid sah mich mit verheulten Augen an, zog den Rotz hoch, kicherte, keuchte, und alles, was ich wollte, war, sie in den Arm zu nehmen, aber es ging nicht. Wir waren wie gleichpolige Magneten. Schließlich sagte Ingrid gefasster: »Ich habe keine Ahnung, was wir jetzt machen müssen, Richard. Seit wir telefoniert haben, bin ich wie in so’ner Blase. Und die läuft mit irgendwas voll. Und das steht mir gerade bis zum Hals. Und ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.« Ich starrte auf meine Cowboystiefel. »Sag du doch auch mal was«, forderte sie mich auf.
    Nach einer kurzen Pause stammelte ich: »Ich kann das nicht so gut. Reden und so.«
    Obwohl ich wusste, dass ich damit rein gar nichts gesagt hatte, fühlte es sich trotzdem an, als hätte ich niemals zuvor so viel von mir preisgegeben.
    »Kann ich dich …« – … nicht einfach in den Arm nehmen, sollte der Satz weitergehen, aber ich brachte es nicht heraus. »Kann ich dich noch um einen Schluck Wasser anschnorren?«
    Ingrid nickte, und ich bemerkte, dass die Blase, in der ich schon mein ganzes Leben steckte, sich allmählich auflöste.
    »Was hat der Arzt dir denn noch erzählt?«, fragte Ingrid, während ich in den Wagen langte und die Flasche herausholte.
    »Die haben Mutter bewusstlos in irgendeinem Park gefunden. Der Notarzt war wohl so schnell vor Ort, dass er es noch geschafft hat, sie wiederzubeleben. Dann haben sie sie ins Krankenhaus geschafft, aber da war sie schon zu lange ohne Sauerstoff. Das macht das Hirn halt nicht mit.«
    |296| Mit hochgezogenen Schultern und verschränkten Armen ging Ingrid auf und ab.
    »Hast du eine Zigarette für mich?«, fragte sie.
    »Ich dachte, du rauchst nicht.«
    »Ja, seit zehn Tagen.«
    Ein Lächeln andeutend, öffnete ich die Schachtel, aber als Ingrid bemerkte, dass es meine letzte Kippe war, sagte sie: »Ach nee, dann lass mal.«
    »Schon okay«, sagte ich, steckte die Zigarette an und gab sie ihr. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich unsere Finger.
    »Zum Schluss habe ich an manchen Tagen zwei Schachteln geraucht«, sagte sie mehr zu sich selbst und nahm einen Zug. Als sie ausatmete, machte sie ein Gesicht, als sei sie nach einem Tauchgang wieder an der Wasseroberfläche angelangt.
    »Und wir sind jetzt die Todesengel für Mama?«, fragte sie. »Je länger wir brauchen, desto länger lebt sie?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ob das gut oder schlecht ist, wenn sie länger lebt, weiß ich aber nicht.«
    »Wo musst du denn noch hin?«
    »Ist im Navigationsgerät eingespeichert.«
    »Ich bin saumüde.«
    »Dann fahre ich«, sagte ich, und als Ingrid mich misstrauisch ansah, fügte ich eilig hinzu: »Nee, nee. Stimmt schon, dass ich keinen Führerschein mehr habe, aber was soll’s? Wie oft wird man schon von der Polizei angehalten? Fahren kann ich ja. Kann ich schon machen.«
    Wir sahen uns schweigend an.
    »Ist aber schon kleinkriminell«, sagte ich schmunzelnd. Ingrid gähnte. Dann sagte sie trocken: »Ich bin seit knapp einem Jahr vorbestraft.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch und sah sie erwartungsvoll an.
    »Wegen Betrugs«, ergänzte sie und deutete

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