Nachtleben
auf ihr T-Shirt. »Vor einer Weile habe ich mal in einem Call-Center gejobbt. |297| Die haben immer Gutscheine verschenkt, wenn ein Bestandskunde einen neuen Kunden geworben hat. Als Mitarbeiter durfte man nicht werben. Aber man konnte direkt telefonisch Kundenkonten eröffnen, und wenn ich das gemacht habe und die Neukunden niemanden hatten, den sie als Werber angeben konnten, habe ich da einfach Freundinnen von mir eingetragen, die Kunden waren.«
»Und den Neukunden hast du das nicht gesagt.«
»Nee. Die haben davon nichts mitbekommen«, sagte sie und nahm einen tiefen Zug. »Und dann gingen die Werbeprämien, also diese Gutscheine, an meine Freundinnen und wir haben die im Internet versteigert oder verkauft.«
»Gutscheine verkauft?«, fragte ich.
»Na ja, das waren Gutscheine für Zeug, das uns nicht interessiert hat. Und wenn du einen Dreißig-Euro-Gutschein für fünfundzwanzig Euro verkaufst, weil du keine Lust hast, ihn irgendwo einzulösen, machst du fünfundzwanzig Euro Gewinn, für die du nichts tun musst und mit denen du dir kaufen kannst, was du willst, und diejenigen, die dir die Gutscheine abkaufen, gewinnen zusätzlich fünf Euro. Das lief eine Zeit lang ganz gut.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sei sie Michel aus Lönneberga, der mal wieder seinen Vater ausgetrickst hat.
»Nach einer Weile hat irgendjemand aus der Marketingabteilung die Gutscheine online gesehen und sich gewundert«, sagte sie. »Dann haben sie recherchiert und sind auch ziemlich schnell dahintergekommen.«
»Wie viel Kohle hast du damit gemacht?«
»Na, ich musste ja immer mit meinen Freundinnen teilen. Anfangs war ich noch vorsichtig, aber zum Schluss bin ich echt gierig geworden. Ich schätze mal …«, sie trippelte, mit der Kippe im Mundwinkel und die Hände in die Hosentaschen gebohrt, von einem Bein aufs andere. »Insgesamt haben wir so knapp fünfzehntausend Euro gemacht.«
»Nicht schlecht«, lachte ich.
|298| »Für mich ist weniger übriggeblieben, weil ich das mit den anderen teilen musste. Aber ich brauchte halt Geld, damit ich meine Eltern …«, sie unterbrach sich und überlegte einen Moment, sah mich an und fuhr fort, »… also meine Pflegeeltern, meine ich, ja? Damit ich die nicht immer anpumpen muss.«
»Deine Pflegeeltern?«
Sie nickte.
»Du bist Anfang dreißig.«
»Na ja, die unterstützen mich. Ich bin halt schon deren Tochter.«
»Hm.«
»Die Wohnung«, sagte Ingrid, und es war zu spüren, dass es ihr unangenehm war.
»Die Wohnung haben sie dir bezahlt?«
»Nee, die bezahlen sie immer noch.«
»Hm«, machte ich wieder.
»Das ist alles total krank«, stöhnte Ingrid. »Meine Mutter hat …«, sie stockte und ich ahnte, wie der Satz weitergehen würde, »… Pflegemutter meine ich. Die hatte ein paar Jahre, bevor sie mich zu sich genommen haben, eine Fehlgeburt, und nachdem das mit mir anfangs total harmonisch war, hat sie irgendwann, als ich zehn war, Depressionen bekommen. Ganz schlimm. Mit Vorhängezuziehen und so. Hat dann ein paar Monate nicht mit mir gesprochen. Kein Wort. Und Papa Rainer, mein Vater …« Nach einer kurzen Pause redete sie weiter, ohne sich zu korrigieren. »Der ist so ein ganz weicher Mensch. Der hat das auf der einen Seite nicht übers Herz gebracht, mich irgendwohin abzuschieben, um mich von seiner depressiven Frau fernzuhalten, und auf der anderen Seite konnte er sich auch nicht von ihr trennen und wollte ihr durch die Depression helfen.«
Ich hockte mich bei offen stehender Tür auf den Fahrersitz, holte mechanisch meine Kippenschachtel aus der Jackentasche, öffnete sie und griff ins Leere. Ingrid streckte mir die Zigarette entgegen.
|299| »Oh«, machte sie, »sorry. Ich habe die fast aufgeraucht. Willst du noch einen Zug?«
Sofort dachte ich nicht mehr ans Rauchen, sondern nur noch daran, wie lange ich ihre Hand berühren konnte, wenn ich ihr die Kippe abnahm. Sie kam einen Schritt auf mich zu, und ich beugte mich vor und schob meine Finger ein Stück weiter als notwendig über ihre und wartete einen Moment, bevor ich die Zigarette griff. Es kribbelte.
»Als es meiner Mutter dann wieder halbwegs besser ging«, fuhr Ingrid fort, »war das alles total gequält. Die war nur noch mit Papa Rainer zusammen, weil sie ansonsten nichts mit sich und ihrem Leben anzufangen wusste, und er hat mir gegenüber so getan, als sei nichts gewesen. Meine Mutter behandelt er seitdem total fürsorglich, wie ein kleines Kind. Die beiden sehe ich nur an
Weitere Kostenlose Bücher