Nachtleben
betrachten, und flüsterte: »Irgendwie habe ich so einen Hang zu Gaunernaturen.«
Ich rückte ein Stück von ihr ab.
|66| »Hast du Kinder?«, fragte sie dann.
»Kinder?!«, reagierte ich erschrocken, als ginge es um eine ansteckende Krankheit, und fuhr in einem erleichterten Ton fort: »Nee. Nicht mal eine Beziehung. Bin auch nicht mehr auf der Suche.«
»Nicht
mehr
?«, wiederholte sie, aber ich winkte ab.
»Egal.«
Merle drückte ihren Rücken durch. Ihre Füße wippten im Rhythmus der Musik, und durch ihr T-Shirt zeichneten sich ihre Brüste ab. Ich gaffte ihren Körper an. Sie leerte ihr Glas mit einem Zug und hielt es mir hin.
»Sicher?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie und ließ es wie eine Gegenfrage klingen. Schnaufend kippte ich ihr Wein nach.
»Rick, es tut mir leid, dass ich mich in den ganzen Jahren nicht bei dir gemeldet habe«, beendete sie dann ihren vor einigen Stunden begonnenen Satz, »aber ich konnte das irgendwie nicht. Ich wollte mich wirklich bei dir melden, aber mit den Leuten aus dem Heim wollte ich nichts mehr zu tun haben und irgendwann war so viel Zeit vergangen, dass ich mich nicht mehr getraut habe.«
Sie rieb sich mit der Hand durchs Gesicht, als würde sie das bisher Geschehene fortwischen, und starrte in ihren Wein. Obwohl ich keine andere Erklärung erwartet hatte, fühlte es sich gut an, es von ihr zu hören.
»Schon okay«, sagte ich.
»Ich habe oft an dich gedacht. Das war schon was Besonderes zwischen uns.«
Wir saßen still nebeneinander auf meinem Bett, und ich überlegte, seit wie vielen One-Night-Stands ich mir schon vornahm, wenigstens das Laken zu wechseln. Die Therme über der Spüle fauchte. Merle streichelte meinen Handrücken. Sofort war es, als habe jemand meine Lunge verkorkt. Weder bekam ich Luft herein noch hinaus, und mein Arm verkrampfte. Einige Sekunden kämpfte ich dagegen an, bevor |67| ich die Anspannung nicht mehr halten konnte und mein Oberkörper zitterte. Ich richtete mich auf und erhob mich vom Bett.
»Wollen wir den anderen Wein mal probieren?«
Merle schüttelte langsam den Kopf. »Soll ich gehen?«, fragte sie, aber ich wusste nichts zu sagen, sondern starrte meine zugepflasterte Wand an.
»Rick, ist alles in Ordnung? Ich find’s einfach nur schön, bei dir zu sein. Ich habe nicht mehr viel, das mich an früher erinnert, und du tust mir gerade gut.«
Mit hochgezogenen Schultern stand ich da und strich mir mit der Hand über den Trizeps.
»Darf ich noch ein bisschen hierbleiben? Bei mir ist vieles den Bach runtergegangen. Eigentlich ist nichts so geworden, wie ich das mal geplant hatte, und ich bin gerade dabei, mir zu überlegen, was ich überhaupt will.«
Schließlich erhob sie sich, kam auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen, sodass ich ihren Atem an meinem Hals spüren konnte. Ihr Parfum kroch mir in die Nase. Ich starrte auf den Teppich. Seit Wochen hatte ich nicht mehr gesaugt.
»Darf ich dich in den Arm nehmen?«, fragte Merle. »Nur in den Arm nehmen? Nur so.«
Nach einem kurzen Zögern blinzelte ich zustimmend, während ich an ihr vorbei auf den Stapel Bücher starrte. Ich hatte keine Ahnung, was man nach dem Umarmen machte, wenn man nicht knutschte und vögelte. Als Merle sich an mich drückte und ihren Kopf an meine Brust lehnte, behielt ich die Arme verschränkt und hoffte, dass sie es wusste.
|68| Februar 1990
Flavio stopfte die Pappschachtel seiner Pizza hinter die Küchentür zum restlichen Altpapier und zu den leeren Flaschen und warf Messer und Gabel in die Spüle, in der sich der Abwasch der letzten Tage stapelte. Während ich einen Joint baute, öffnete Flavio eine Chipstüte und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
»Was hast du nach dem Zivildienst vor?«, fragte er mit vollem Mund, aus dem Krümel stoben wie Funken.
Ich zuckte mit den Schultern und bröselte etwas Gras in den Tabak. »Vielleicht reisen oder so«, sagte ich, aber weder wusste ich, wohin, noch von welchem Geld. Letzten Endes war es nicht mehr als ein hohler Satz, den ich irgendwann jemanden hatte sagen hören und den ich von mir gab, um die Frage beantwortet zu haben.
»Hast du schon Pläne für danach?«, wollte ich wissen. Dabei verteilte ich die Grasbrösel gleichmäßig über den Tabak und zupfte daran herum.
»Mein Vater hat zwei kleine Restaurants. Vielleicht steige ich da mit ein, aber meine beiden Brüder teilen das gerade unter sich auf.«
Ich schob die Mischung auf dem Blättchen zurecht.
»Ein Cousin von mir ist
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