Nachtleben
hakte er nach, und ich musste kichern. »Muss die Tina wieder ran, hm? Schwester Tina?«
Tina leistete ihr Freiwilliges Soziales Jahr im Heim. Gleich am ersten Tag hatte ich mich in sie verguckt, traute mich aber nicht, mit ihr zu reden, nicht einmal, sie anzusehen. Im Gegensatz zu mir ließ Flavio keine Gelegenheit aus, sich an sie ranzuschmeißen. Als er ihr einige Tage zuvor mit seinen Annäherungsversuchen zu aufdringlich geworden war, hatte sie ihm im vollen Esssaal eine lautstarke Ansage gemacht, was er ihr noch immer nicht verziehen hatte.
»Die Tina kann das doch immer so gut, oder, Roswitha?«, fragte Flavio.
»Tina«, antwortete Frau Stubenrauch, und Flavio nickte zufrieden.
»Genau«, sagte er, »die kleine Blondine mit dem Arsch in der Hose.«
»Ja, ja«, säuselte Frau Stubenrauch und starrte an die Decke. »Die Tina.«
»Tina«, wiederholte Flavio zur Sicherheit. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und wir lieferten Frau Stubenrauch bei Tina ab, die nur genervt die Augen verdrehte.
»Gib mir fünf«, sagte Flavio, als wir nicht mehr in Sichtweite waren. Ich hatte mich noch nie mit jemandem abgeklatscht, und so sah ich ihn nur überrascht an.
»Hand her«, befahl er. Ich streckte meine Hand aus, und Flavio schlug ein, dass es knallte. Als das Kribbeln auf der Handfläche nachließ, begriff ich, dass ich jetzt offenbar einen Kumpel hatte, einen Freund.
|72| »Willste nicht erzählen, was mit deinen Eltern ist, oder was?«
Flavio bohrte seine Hand in die Chipstüte.
»Tot. Mein Eltern sind tot«, hörte ich mich sagen. »Autounfall.«
»Ach du Scheiße.«
»Ist nicht schlimm«, sagte ich und rollte den Joint zwischen meinen Fingern. »Die sind gestorben, als ich vier war. Habe dann bei meinen Großeltern gelebt.«
»Und was machen die?«
»Die sind gestorben, als ich dreizehn war«, sagte ich und spürte die bittere Gummierung des Blättchens auf meiner Zungenspitze. »Danach war ich ein paar Jahre im Heim.«
»Boah, alle unter der Erde, oder was?«, fragte Flavio, die Stirn in Falten.
»Alle unter der Erde«, bestätigte ich und musste mir ein Grinsen verkneifen. Dann verklebte ich den Joint und dröselte den überstehenden Teil des Papiers zusammen, um es einfacher abbrennen zu können.
»Und hast du noch Geschwister?«, wollte Flavio wissen. Der Geruch des verglühenden Blättchens zog mir in die Nase.
»Nee, keine Geschwister«, sagte ich, steckte den Joint an und behielt den Qualm lange in der Lunge.
»Ich habe eine riesige Familie«, sagte Flavio. »Könnte ich mir gar nicht vorstellen, wie das ist, ohne Brüder, Cousins und Cousinen. Bist du ganz alleine?«
Während ich Flavio den Joint reichte, nickte ich stumm und presste den Qualm aus der Lunge, als könne ich so auch die Worte
ganz alleine
loswerden. Es funktionierte nicht. Sie steckten fest. Und sie waren neu. Zwar war ich jahrelang ganz alleine gewesen, aber die Formulierung war mir nie in den Sinn gekommen. Es war, als habe Flavio einen Spiegel, in dem ich mein bisheriges Leben im immer gleichen Winkel betrachtet hatte, um ein paar Grad gekippt, und ich bekam Dinge zu sehen, die ich nie zuvor bemerkt hatte. Mit einem Mal spürte ich, wie sich ein Brennen in meinem Magen ausbreitete, |73| meine Kehle zog sich zusammen, und das Zwerchfell verkrampfte.
»Vermisst du deine Leute?«, fragte er.
»Geht so«, antwortete ich.
Ich starrte auf die Tischplatte mit den Tabakbröseln, den Flecken und der zerrupften Kippenschachtel und musste an unsere alte Wohnung denken. Sofort hatte ich den muffigen Geruch des Wohnzimmers in der Nase und spürte die klebrigen Fliesen des Tisches an meinen Handflächen.
Irgendwann hatte ich damit aufgehört, über Ingrid und Mutter nachzudenken oder mir vorzustellen, wie alles hätte kommen können, wäre dieses und jenes nicht geschehen. Im Laufe der Jahre war ich die immer gleichen Gedankenspiele, die doch nie zu etwas führten und nur noch mehr Fragen aufwarfen, leid geworden. Wenn die Erinnerungen gelegentlich kamen, lästig wie ein Mückenschwarm und ebenso wenig fassbar, versuchte ich für gewöhnlich schnell und mit möglichst wenigen Stichen davonzukommen. Meistens lenkte ich mich mit Kiffen oder Laufen ab.
»Hast du schon mal Gras verkauft?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, aber Flavio reagierte nicht. »Der Sold hier ist total dünn, damit komme ich nie über die Runden.«
Flavio brummte und sah mich grübelnd an, wobei er langsam Qualm aus Nase und Mund quellen ließ. Ich
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