Nachtleben
setzte mich zu ihr aufs Bett. Softe Beats drangen aus den Boxen.
»Ich habe noch ein neueres Foto von meinen Großeltern.« Mit beiden Händen ruckelte ich an der Schublade meines Nachttischchens und kramte darin.
»Und was ist mit deiner Schwester?«, fragte Merle. »Das war doch früher immer das Thema. Sollt ihr euch sehen, sollt ihr euch nicht sehen. Und haben ihre Pflegeeltern da nicht immer irgendwie zwischengefunkt?«
Unter den Bassfrequenzen der Musik hörte ich das leise Grundsurren der Boxen. Die Nachttischschublade roch nach Bier.
»Ja«, sagte ich und wusste dann nicht weiter. »Irgendwie so war das.«
»Und was macht die jetzt? Habt ihr Kontakt?«
»Die studiert Jura. In München.«
Merle wartete kurz ab, dann hakte sie nach. »Und?«
»Die hat irgendwie keine Lust, Kontakt mit mir zu haben. Das ist ihr alles …«, ich stockte, »ist ihr alles zu viel.«
Dann holte ich ein dunkelbraunes Lederetui, auf das in geschwungener Schrift das Wort
Privat
geprägt war, aus dem Nachttisch.
»Schick«, sagte Merle.
»Hat mir auch meine Oma geschenkt.« Ich zog ein Foto heraus und gab es Merle. »Das sind meine Großeltern. Ist von einer Weihnachtsfeier vor ein paar Jahren.«
Ein Lächeln zog sich über Merles Gesicht, als sie das Bild |64| betrachtete, auf dem zwei alte, sich umarmende Menschen mit schneeweißen Haaren zu sehen waren, die in die Kamera lachten.
»Der sieht aus wie so ein alter Seebär«, sagte Merle.
Ich nickte. Schließlich fragte ich: »Was hast du die letzten fünfzehn Jahre gemacht?«
Merle legte das Foto beiseite.
»Gejobbt.«
»Als Erzieherin?«
»Nee«, antwortete sie, den Stiel ihres Weinglases reibend. »Das hieße gearbeitet und nicht gejobbt.«
»Hast du noch Sozialpädagogik studiert? Hattest du doch damals vor, oder?«, wollte ich wissen, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nachdem die mich aus dem Heim geworfen hatten, wollte ich erst mal was anderes machen und irgendwie bin ich dann beim Kellnern in Cafés und solchem Kram hängengeblieben. Drei Jahre war ich in Berlin.« Ich sah sie interessiert an, aber sie schüttelte wieder den Kopf.
»Auch nur ’ne Stadt«, murmelte sie, nahm einen Schluck, streifte sich die Schuhe von den Füßen und streckte ihre Zehen.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt jobbe ich in einem Café beim Hafen. Und selbst?«
»Security halt.«
»Immer in dem Laden?«
»Nee. Ich war zu Anfang ein paar Jahre mit einem Kumpel fest in einem Laden, aber irgendwann wurde uns das zu blöd. Da mussten wir ständig an der Theke aushelfen, aufräumen und durchfegen und so.«
»Obwohl du eigentlich für die Sicherheit zuständig warst?«
»Na ja«, druckste ich herum, »wir waren da halt schwarz und haben nebenher Kohle vom Amt kassiert. Da konnten wir nicht motzen. Jetzt sind wir seit einer Weile bei einer Security-Agentur angestellt, die uns mal hier, mal da einsetzt.«
|65| »Und das ist besser?«
»Über die können wir trainieren und machen ein bisschen Kampfsport. Das ist schon okay, aber die lassen mich und meinen Kumpel kaum noch zusammen arbeiten. Außerdem schicken die uns immer in genau die Läden, auf die wir keinen Bock haben. Keine Ahnung, was das soll. Die sind uns irgendwie auch zu seriös. Macht nicht so richtig Spaß.«
»Verdient man dabei ganz gut?«
»Geht«, antwortete ich. In dem Moment trafen sich unsere Blicke in einem merkwürdig vertrauten Winkel. Mit einem Mal erinnerte ich mich an längst vergessene Gespräche, in denen ich Merle Dinge anvertraut hatte, die sonst niemand von mir wusste. Von aufgebrochenen Kaugummi-Automaten, zerkratzten Autos oder der rothaarigen Jenny aus meiner Parallelklasse, in die ich verschossen war. Nie hatte Merle irgendjemandem davon erzählt. Auch wenn diese Geheimnisse im Laufe der Zeit bedeutungslos geworden waren, waren sie noch längst nicht verjährt, und es waren noch immer unsere Geheimnisse.
»Manchmal verkaufe ich noch so Zeug«, sagte ich schließlich.
»Was für Zeug?«
Ich zog hoch und rieb mir die Nase.
»Kokain?«
»Speed. Nicht oft. Nur an Kollegen. Ich kaufe das von einem Typen, der ist gerade Arzt im Praktikum. Der streckt das so gut wie gar nicht und verkauft es so billig, dass es echt was bringt, wenn ich es dann selbst noch ein bisschen strecke und weiterverticke.«
Merle stützte sich auf dem Ellenbogen ab und lehnte sich zu mir herüber, sodass sich unsere Arme berührten. Es kribbelte. Dann kniff sie ein Auge zu, als würde sie mich durch einen Türspion
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