Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
Türsteher. Im White Palms«, sagte Flavio. »Mit dem trainiere ich ab und zu.« Er warf einen Blick auf seine Oberarme. »Das ist ein ganz geiler Job. Der kennt tausend Leute und kommt in die ganzen Läden. Geile Frauen und so. Bist du am Wochenende viel unterwegs?«
    »Manchmal«, sagte ich.
    »Und wo gehst du so hin?«
    |69| »Kneipen oder Discos.«
    Flavio hörte zu kauen auf und zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, schon klar«, sagte er kauend. »Welche, meine ich?«
    »Unterschiedlich.«
    Konzentriert starrte ich auf den Joint, als könne ich gerade nicht ausführlicher antworten. Tatsächlich war es so, dass ich nie wegging, weil ich schlichtweg niemanden kannte, mit dem ich hätte weggehen können. Drei Jahre zuvor hatte ich das Heim verlassen und war meiner Lehre wegen in die Stadt gezogen. Die einzigen Leute, die ich in der ganzen Zeit kennengelernt hatte, waren die beiden Gesellen aus meinem Betrieb, die aber zehn Jahre älter waren als ich. Claus, einer der beiden, kam in der Regel schon bekifft zur Arbeit und legte in jeder freien Minute nach. Ein paar Monate später rauchte ich mit, und irgendwann kaufte ich Gras von ihm. Meine Wochenenden verbrachte ich stoned vor der Glotze und war froh, wenn am Montag die Maloche weiterging, damit ich etwas zu tun hatte. Einige Male war ich in Discos gewesen, hatte aber nur mit einem Bier in der Hand am Rand der Tanzfläche oder in einer Ecke gestanden und das Maul nicht aufbekommen. Jeder Satz, der mir in den Sinn gekommen war, wie witzig oder clever er auch gewesen sein mochte, schien eigentlich zu sagen:
Hallo, ich kenne hier niemanden und suche Anschluss.
Die Blöße hatte ich mir nicht geben wollen, so war ich wieder nach Hause gelatscht.
    »Hm«, machte Flavio. »Ich zeig dir am Wochenende mal ein paar Läden. Machen wir eine Tour.«
    Ich nickte.
    »Was machen deine Eltern?«, wollte er wissen. Ich zuckte mit den Schultern und bemerkte das Ticken der Küchenuhr, die auf Sommerzeit lief, obwohl bereits Februar war. Kurz überlegte ich, welche der Geschichten, die ich über meine Familie im Repertoire hatte, ich zum Besten geben sollte. Nachdem ich jahrelang in der Schule oder während der Ausbildung |70| immer nur zusammenfabuliertes Zeug erzählt hatte, gingen mir die ausgedachten Geschichten inzwischen leichter über die Lippen als die Wahrheit oder was ich für die Wahrheit hielt. Als ich nicht sofort antwortete, hakte Flavio nach: »Ist’s dir peinlich oder was?«
    Seine direkte, oft unüberlegte Art gab mir ein ungewohntes Gefühl von Sicherheit. Wenn ihm etwas nicht in den Kram passte oder er genervt war, sagte er es geradeheraus. Obwohl wir uns erst zwei Wochen kannten, hatte ich das Gefühl, dass ich bei ihm immer genau wusste, woran ich war, denn bei ihm gab es keinen doppelten Boden. Außerdem brachte er mich mit seiner großen Fresse immer wieder zum Lachen.
    Einige Tage zuvor, als Flavio mich im Altenheim einarbeitete, holten wir Frau Stubenrauch aus ihrem Zimmer, um sie zum Mittagessen zu bringen, und hatten sie gerade in ihrem Rollstuhl in den Fahrstuhl geschoben, als sich ein süßlicher Gestank breitmachte. Im nächsten Moment hörte ich ein Tröpfeln. Als ich begriffen hatte, dass sie sich einmachte, drückte ich mich angewidert in die Ecke des Fahrstuhls. Frau Stubenrauch gaffte auf die roten LED-Zahlen der vorbeiklingelnden Stockwerke. Die Hände in die Hüften gestemmt, baute Flavio sich vor ihr auf.
    »Roswitha«, nölte er, alle Vokale ihres Namens albern überdehnend. Dabei schüttelte er den Kopf, während er die Fußspitze auftippte, als würde er auf einen verspäteten Bus warten. Flavio sprach alle Bewohner mit ihren Vornamen an, und niemand störte sich daran. Einige waren wohl schon zu weggetreten, um es zu bemerken, aber die meisten hatten Spaß daran, wenn er mit seiner südländischen Ciao-Ragazzi-Masche wie ein Pappagallo um sie herumschwänzelte. Wahrscheinlich erinnerte es sie an die gute alte Zeit, Campingurlaub am Gardasee mit den Kindern und dem ersten Kleinwagen.
    »Roswitha«, wiederholte Flavio, und Frau Stubenrauch sah zu ihm auf. Beinah singend und mit hin- und herwackelndem Kopf fragte sie: »Hmmm?«
    |71| »Eingeschissen, ne?«, fragte Flavio. Weil sie so gut wie taub war, brüllte er es mehr, als dass er es sagte. Frau Stubenrauch überhörte ihn trotzdem. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte sie den Kopf schief und sah ihn an wie einen Enkel, der auf seltenen Besuch vorbeigekommen war.
    »Schön warm, was?«,

Weitere Kostenlose Bücher