Nachtleben
dem Moment glaubte ich, ein schüchternes Lächeln in Franz’ Gesicht zu entdecken.
»Grüß sie mal von mir«, rief er, bevor die Tür zugeschlagen wurde und ich nur noch seine Silhouette durch die Milchglasscheibe erkennen konnte. Der Wagen hoppelte davon.
Am nächsten Abend kam Flavio auf ein Bier vorbei. Den ganzen Tag über hatte ich an nichts anderes als Franz denken |91| können. Ich war nicht sicher, ob ich ihn im Krankenhaus besuchen sollte. Flavio konnte ich nicht nach seiner Meinung fragen, weil er noch immer glaubte, meine Eltern wären bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ein Ex-Freund meiner Mutter passte dabei nicht ins Bild. Irgendwann im Laufe unserer Freundschaft hatte ich den Zeitpunkt verpasst, das Ganze richtigzustellen. Weil er nie nachgefragt hatte, hatte ich es abgehakt und nicht mehr damit gerechnet, dass es noch mal eine Rolle spielen würde.
Während wir am Küchentisch saßen, polterte es in unregelmäßigen Abständen dumpf in der Wohnung über uns.
»Die stampft ja immer noch«, sagte Flavio. Ich legte den Kopf in den Nacken, lehnte ihn gegen die Wand und schloss die Augen. Einige Wochen zuvor war eine neue Mieterin über mir eingezogen, die mir mit ihrem Getrampel den letzten Nerv raubte.
»Da waren die Junkies aber pflegeleichter«, sagte Flavio.
Die Neue hatte ein Junkiepaar abgelöst, das sich vorher zwei-, dreimal im Monat durch die Wohnung und das Treppenhaus geprügelt hatte und dem mal von den Bullen, mal von Junkiekollegen die Tür eingetreten worden war. Schlussendlich waren sie aus der Wohnung geklagt worden, und ich war froh gewesen, endlich Ruhe zu haben. Aber während ich von den Junkies nur gelegentlich etwas mitbekommen hatte, hörte ich von der Nachmieterin jeden einzelnen Schritt, als würde sie auf den Hacken durch die Wohnung hüpfen. Als ich sie deswegen im Treppenhaus angesprochen hatte, hatte sie mich mit ihrem Silberblick angestarrt und von ihrem Parkettboden gefaselt, der noch gemacht werden müsse.
»Du kannst mir nicht erzählen, dass die Braut nicht fett ist«, sagte Flavio.
»Die ist gertenschlank«, sagte ich. »Die merkt’s einfach nicht.«
»Dann geh doch da mal rauf, das ist ja nicht auszuhalten. Die muss doch laufen lernen. Wie alt ist die?«
|92| »Anfang zwanzig«, sagte ich und überlegte, wie alt Franz inzwischen sein mochte.
»Oder boller einfach zurück.«
»Die hat sowieso schon Schiss vor mir«, sagte ich. »Huscht im Treppenhaus nur noch an mir vorbei. Ich glaube, die bekommt die One-Night-Stands immer mit. So gesehen, gleicht sich das irgendwie aus. Ist schon okay.«
»Schon okay mal wieder, ne?«, wiederholte Flavio und schüttelte den Kopf. Die Neue ächzte über uns hinweg. Ich grübelte. Auf der einen Seite war ich neugierig, was Franz mir über Mutter erzählen konnte, aber auf der anderen war ich nicht sicher, ob ich wirklich alles hören wollte. Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich die Begegnung mit ihm nicht einfach vergessen konnte oder dass es ein gehöriger Kraftaufwand sein würde, nicht darüber nachzudenken.
»Wie lange willst du das denn aushalten?«, fragte Flavio.
»Abwarten«, sagte ich. »Erledigt sich vielleicht von selbst.«
»Wie das denn?«
»Zeit vergehen lassen.«
»Das kann doch ewig dauern«, sagte Flavio. «Und du kannst das doch nicht ignorieren, ey.«
Es polterte wieder. Ich musste an Franz’ schwere Schuhe denken.
»Hingehen! Hingehen und gucken, was passiert«, sagte Flavio. »Das ist doch besser, als nichts zu tun.« Ich schwieg. »Alles ist besser, als nichts zu tun«, kam Flavio ins Philosophieren und nahm einen Schluck Bier darauf. »Am besten sofort erledigen. Damit quälste dich doch nur rum, wenn du es aufschiebst. Früher oder später hältste es nicht mehr aus und musst dich sowieso drum kümmern. Da kannstes auch gleich machen.«
Am nächsten Tag stand ich im Krankenhauskiosk, ließ meinen Blick über die Zeitschriften, die Blumen und das Regal mit dem Kitsch wandern und überlegte, was ich für Franz kaufen |93| sollte. Patienten in Bademänteln schlichen um mich herum, und vom Flur her klapperten die Latschen der Schwestern auf dem Linoleum. Alles war so sauber, dass sich meine Stiefel um so schmutziger anfühlten. Die Frau an der Kasse lehnte sich über den Tresen wie über die Reling eines Ausflugsdampfers und fragte: »Für wen soll es denn sein?«
»Einen Mann.«
»Jung oder alt?«
Obwohl es seltsam klang, sagte ich: »Alt.«
»Ist er schon länger
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