Nachtleben
und konnte nicht genug von Luises Geschichten hören oder denen, die Fietje aus dem Krieg oder von der See erzählte.
In dem Jahr fand eine Weihnachtsfeier im Speisesaal statt. Fietje und ich hatten Luise dazu überredet, einige Lieder vorzubereiten, die sie, begleitet von einem Zivi am Klavier, singen würde.
Als Luise an jenem Abend den Saal betrat und in einem schwarzen Abendkleid zum Klavier schritt, herrschte erwartungsvolle Stille. Im gedimmten Licht flackerten Kerzen in Adventsgestecken. Es roch nach Plätzchen, Tannen, Orangen und Windeln. Aristokratisch in die Runde lächelnd, stellte Luise sich neben den Tannenbaum und begrüßte den Zivi, der aber mit ihrem Handrücken, den sie ihm zum Kuss hinhielt, nichts anzufangen wusste.
»Sollen wir, mein Lieber?«, fragte sie ihn, und er nickte schüchtern. Sie fingen an mit
Es ist ein Ros entsprungen,
und Fietje saß mit geschlossenen Augen neben mir und schaukelte den Kopf hin und her. Obwohl ich keine Ahnung vom Klavierspielen hatte, konnte ich hören, dass der Zivi etliche Töne versemmelte. In dem Moment wünschte ich mir nichts so sehr, wie an seiner Stelle zu sein. Luise sang mit großen Gesten, und ich spürte, dass sie, wenn sie ihre Augen schloss, nicht in einem Altenheim auftrat, sondern in den Sälen ihrer Vergangenheit, vor einem Publikum, das nur ihretwegen gekommen war. Als Nächstes spielten sie
Stille Nacht,
und als sie zum Abschluss
O Tannenbaum
anstimmten und Luise den ganzen Saal aufforderte mitzusingen, fühlte ich mich wie ein kleiner Junge. Seit dem Kindergarten hatte ich kein Weihnachtslied |84| mehr gesungen. Im Heim hatte ich mich gedrückt und, wenn überhaupt, nur die Lippen bewegt, aber in diesem Moment mit allen zusammen zu singen fühlte sich an, wie in eine warme Badewanne zu steigen.
»Danke, meine Lieben«, sagte Luise anschließend überschwänglich, legte dem Zivi ihre Hand auf die Schulter und verneigte sich tief, bevor sie sich genauso stolz, wie sie erschienen war, wieder davonmachte.
Fietje war völlig aus dem Häuschen, klatschte, pfiff, erhob sich und warf Luise Kusshände hinterher. Ohne darüber nachzudenken, stand ich ebenfalls auf und zog gleich noch Herrn Burgdorf mit auf die Beine, der zwar stocktaub war, aber aus irgendeinem Grund auch ein breites Lächeln im Gesicht hatte. Dann dauerte es nicht lange, bis alle, die stehen konnten, auch standen und applaudierten und Luise noch zweimal schwungvoll nach vorne kam, um sich zu verbeugen.
Als ich einige Wochen später an einem Morgen den Speisesaal betrat und Luise alleine und ohne Zeitung am Tisch hockte und mich ansah, wusste ich sofort, was passiert war.
»Er ist einfach nicht aufgestanden«, sagte sie trotzig, als habe Fietje unter einem fadenscheinigen Vorwand abgesagt. »Dabei wollten wir doch heute zum Hafenkonzert.«
Ich setzte mich zu ihr und starrte in ihren Kaffee, bis ich bemerkte, dass ich mich aus Dutzenden schwarzen Bläschen zurück anstarrte.
»Dann gehen wir beide da halt hin und trinken auf ihn«, sagte ich, und sie streichelte meinen Arm, ohne mich dabei anzusehen.
Vier Wochen später klagte sie über Rückenschmerzen. Nach knapp zwei Monaten konnte sie nicht mehr alleine laufen, und wir mussten sie in einen Rollstuhl setzen. Kurz darauf wollte sie keine Ausflüge mehr mit uns unternehmen, und irgendwann saß sie nur noch wie im Halbschlaf am Fenster und summte vor sich hin. Einige Male lehnte ich minutenlang |85| im Türrahmen und hörte ihr dabei zu. Bald wollte sie nichts mehr essen, und ich bestand darauf, dass ich sie fütterte, weil ich wusste, wie ruppig einige der Pflegerinnen es mitunter machten. Irgendwann saß ich Luise mittags gegenüber und versuchte, den Menschen in ihr zu finden, der sie noch wenige Wochen vorher gewesen war. Bei jedem Löffel, den ich ihr in den Mund schob, sah sie mir starr in die Augen und kaute langsam und widerwillig und schluckte erst, wenn ich es ihr sagte. Ihre Haare, mit denen sie sich vorher solche Mühe gegeben hatte, waren zerzaust, und weil sie ihre Kleider nicht mehr alleine anziehen konnte, saß sie im Nachthemd vor mir, über dem sie eine graue Strickjacke trug.
»Wollen wir morgen Fietje besuchen?«, fragte ich. »Zu Fietjes Grab, Luise? Morgen?«, wiederholte ich lauter. Sie blinzelte, und ich beschloss, dass das
Ja
bedeutete.
Am folgenden Morgen wurde ich durch Pochen an unserer Wohnungstür und energisches Klingeln geweckt. Nur in meinen Shorts torkelte ich zur Tür und
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