Nachtleben
hier?«
»Zwei Nächte.«
»Und ist er halbwegs fit?«
»Geht so.«
»Verwandtschaft?«
Ich überlegte. »Entfernt.«
»Dann nehmense einfach den bunten Strauß da hinten für fünf Mark und die Zeitschrift hier«, sagte sie lächelnd. Ich war nicht sicher, wie die Antworten auf ihre Fragen mit den Blumen und der Zeitschrift zusammenhingen, aber ich kaufte das Zeug trotzdem.
Franz lag in Zimmer drei-sechsundfünfzig. Auf dem Weg dorthin, vorbei an im Flur abgestellten Essenswagen und Rollstühlen, war ich noch immer unschlüssig, was ich mir von dem Treffen erhoffte. Aus dem Schwesternzimmer drang Gelächter. Aquarelle von Blumen und Landschaften hingen an den Wänden. Die Tür kam in Sicht. Einen Moment überlegte ich, erst noch abzuwarten, um mich zu sortieren und zu entscheiden, was ich zur Begrüßung sagen sollte. Aber noch schnell irgendwelche Phrasen zurechtzudrechseln fand ich genauso unsinnig, wie spontan etwas Blödes zu sagen, also klopfte ich nur kurz und stieß die Tür auf.
Franz saß mit verschränkten Armen im Bett und sah aus dem Fenster.
»Moin«, sagte ich.
|94| »Mensch!«, rief Franz mehr, als er es sagte, aber lange nicht so laut, wie ich ihn in Erinnerung hatte, und verhedderte sich dann in einem: »Das is ja … also das is ja … also ehrlich … das is ja.«
Er lag in einem hellen Vier-Bett-Zimmer mit großen Fenstern und Balkon. Die Laken der anderen Betten waren zerwühlt, aber außer uns war niemand im Raum. Auf den Nachttischen lagen Zeitungen, und bei jedem Bett stand eine grüne Flasche Wasser. Nachdem ich ihm die Zeitschrift und den Blumenstrauß gegeben hatte, holte ich mir einen Stuhl aus der Zimmerecke und setzte mich zu ihm ans Bett. Schnaufend betrachtete Franz die Zeitschrift, als würde er zum ersten Mal eine in der Hand halten, und strich mit den Fingern über das Titelblatt.
Eine gut gelaunte Krankenschwester kam hereinspaziert. »Na? Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie.
»Jo, jo, alles paletti«, antwortete Franz, und die Schwester nahm ihm den Strauß aus der Hand. »Den stelle ich mal ins Wasser, ja?« Wir nickten. Dann sah sie uns an, als würde sie die Such-den-Fehler-Bildchen in einer Fernsehzeitung vergleichen, und sagte: »Sehe ich da eine gewisse Ähnlichkeit?«
Wir schwiegen.
Als sie verschwunden war, bemerkten wir die Stille.
»So, jetzt erzähl mal«, forderte Franz mich auf. »Was ist denn mit deiner Mutter?« Unter dem Knistern meiner Bomberjacke lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und zählte die Fliesen in der Waschecke des Zimmers. Als ich bei der zehnten angelangt war, fragte er: »Habt ihr euch zerstritten? So was macht man nicht, Junge. Nicht mit der eigenen Mutter«, sagte er in einem besorgten Ton, der aber dennoch nicht falsch klang. »Was war denn los?«
Im Schnelldurchlauf ging ich all die Geschichten durch, die ich ihm hätte auftischen können. Aber es war Franz, der mir gegenübersaß. Er wusste es besser. Nach einer längeren Pause antwortete ich: »Habe seit über siebzehn Jahren nichts |95| von ihr gehört. Dachte, sie wäre vielleicht tot.« Franz machte erst große Augen und dann dicke Backen. »Nachdem ich ins Heim gekommen bin, hat sie sich nicht mehr gemeldet. Zwei-, dreimal noch oder so, aber auch nur, weil die Leute vom Amt Druck gemacht haben. So genau weiß ich das alles gar nicht.«
»Tssss«, machte Franz, rutschte im Bett hin und her und wackelte von einer Backe auf die andere. Dann fragt er ungläubig: »Heim?«
»Ich bin ins Heim gekommen, nachdem die Sache mit dem Koks passiert ist.«
»Hier in der Stadt?«
»Nee«, sagte ich. »Hier in der Stadt hatten sie die geschlossenen Heime gerade dichtgemacht. Haben mich in eins auf dem Land ausquartiert. War schon okay.«
»Und die Kleine?«, fragte Franz. »Was ist denn mit der Kleinen?«
»Ingrid?«, fragte ich zurück und zuckte mit den Schultern, worauf Franz mit der Faust auf die Zeitschrift auf seinem Schoß schlug.
»Nee«, zischte er. Sein Blick wanderte aus dem Fenster und blieb in den kargen Ästen und Zweigen eines Baumes hängen.
»Ingrid ist damals in eine Pflegefamilie gekommen«, sagte ich. »Da ist wohl einiges schiefgelaufen. Das sollte alles nur vorübergehend sein, und die ersten Monate hatten wir schon noch Kontakt. Ab und zu. Ich glaube, ihre Pflegeeltern mussten aus beruflichen Gründen in den Süden ziehen oder so, und dann wollte man Ingrid nicht wieder aus der Familie reißen, weil sie sich wohl ganz gut eingelebt hatte. Im
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