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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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das aus den Clubs und Kneipen drang, roch die Fressbuden, dann die Pisse, und schließlich war da Franz. Den ganzen Jahren zum Trotz erkannte ich ihn sofort, als er vor mir in der Gosse lag, hilfesuchend die Arme ausstreckte und wie eine umgedrehte Schildkröte hin- und herschaukelte.
    »Hilf mir mal hoch, Junge«, rief er, offenbar unter starken Schmerzen. Er schien mich nicht zu erkennen. Sein Gesicht war aufgequollen, die ursprünglich kantigen Gesichtszüge waren verschwunden, und alles war wie bei einem alten Kahn in Schieflage geraten.
    »Junge«, wiederholte er. Mit der einen Hand hielt er sich die Hüfte, mit der anderen winkte er mich zu sich heran, und nachdem es beim ersten Mal noch eine Aufforderung gewesen war, war es nun eine Bitte. Passanten bemerkten uns und warfen mir verständnislose Blicke zu, machten aber keine Anstalten, ihn selbst auf die Beine zu ziehen.
    »Nun hilf dem doch mal!«, rief jemand herüber. Sofort wandten sich uns noch mehr Augenpaare zu.
    Franz’ Hand war rauh, aber sein Griff unerwartet schwach. Als ich versuchte, ihm aufzuhelfen, sackte er mit schmerzverkniffenem Gesicht in sich zusammen.
    »Das Bein«, grummelte er. Ich packte ihn unter den Armen und hievte seinen Hintern auf den Bürgersteig, sodass er sitzen konnte.
    |89| »Ich glaub, ich brauch einen Krankenwagen«, sagte er, wischte sich die Hände an seinem Flanellhemd ab und zündete sich eine Zigarette an. »Holst du einen?«, fragte er.
    Vom Dönerladen aus rief ich einen Rettungswagen und kaufte zwei Dosen Bier, mit denen ich mich zu Franz auf den kalten Bürgersteig setzte.
    »Hüftgelenk?«, fragte ich und drückte ihm das Bier in die Hand. Franz zögerte, wie ich früher gezögert hatte, wenn Werner mir im selben Moment etwas angeboten und eine intime Frage gestellt hatte. Als wäre es ein Tausch, den man erst abwägen musste.
    Schließlich sagte Franz: »Wenn’s nur das wäre.« Damit öffnete er das Bier, nahm einen Schluck und gaffte an mir vorbei. Ich sah ihn an. Franz bemerkte es, und nach einem tiefen Atemzug sagte er: »Zucker. Der ganze Körper ist kaputt. Nieren, Augen, Zähne.« Er lachte und entblößte eine braungelbe obere Zahnreihe. »Die Füße wollen auch nicht mehr so richtig. Ist aber in Ordnung. Haben mir die Ärzte schon vor dreißig Jahren gesagt. Selbst schuld. Nie drum gekümmert.«
    »Viel gefeiert, was?«
    »Oh«, er wackelte mit der Hand. »Ich könnte dir Geschichten erzählen.« Dann kniff er ein Auge zu und starrte mit dem anderen in die Öffnung der Bierdose.
    »Willste ’ne Zigarette?«, fragte er schließlich und reichte mir die Kippe wie ein Staffelholz weiter.
    »Rauchen macht’s bestimmt auch nicht besser«, sagte ich und nahm die Zigarette.
    Franz winkte ab und schlürfte aus der Dose. »Das is jetzt auch egal«, sagte er.
    Wir saßen still nebeneinander. Schließlich traf der Krankenwagen mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn ein, und der dreckbespritzte Radkasten kam direkt vor uns zum Stehen. Nachdem der Sanitäter ausgestiegen war, fischte er ein Klemmbrett von der Ablage, überflog es und las meinen Namen vor, den ich beim Anruf angegeben hatte.
    |90| Franz’ Blick driftete ins Leere. Ich konnte ihm ansehen, wie der Name in seinem Schädel rotierte. Er bewegte die Lippen, um ihn stumm zu wiederholen. Weil ich nicht reagierte, las der Fahrer erneut meinen Namen vor. Zögerlich wandte Franz mir den Kopf zu und gaffte mich an, als sei ich der Klabautermann.
    »Richard«, flüsterte er.
    Ich hätte ihn herablassend, mitleidig oder voller Verachtung anschauen können, aber ich sah ihn einfach nur an. Weder empfand ich Hass oder Wut noch irgendeine Form von Ärger. Eher fühlte es sich an, als sei ich einem alten Klassenkameraden über den Weg gelaufen, mit dem ich früher die eine oder andere Rauferei gehabt hatte. Mehr als die Schläge, die ich hatte einstecken müssen, spürte ich unsere gemeinsame Vergangenheit.
    Franz gab nicht einen Mucks von sich, als die Sanitäter ihn auf die Trage wuppten, um ihn anschließend in den Wagen zu schieben; er verzog nur das Gesicht und klammerte sich an die Bierdose.
    »Wie geht’s deiner Mutter?«, waren die ersten Worte, die er herausbrachte. »Ist sie noch im Ruhrpott, oder hat sie sich inzwischen ins Ausland abgesetzt?«, wollte er wissen. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
    »Fahren Sie mit?«, fragte mich einer der Sanitäter.
    Ich schüttelte den Kopf. »In welches Krankenhaus bringen Sie ihn denn?«
    »Uni-Klinik.«
    In

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