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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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erwartete, in Herrn Wedekinds Hackfresse zu blicken, doch als ich öffnete, hielt mir jemand eine Polizeimarke vor die Nase. Hinter ihm bemerkte ich einige Polizisten in Einsatzmontur.
    »Ich bin Hauptkommissar Bauernfeind. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie Drogen in der Wohnung verstecken.«
    Eine Druckwelle erfasste mich. Die nächsten Sätze verschwanden in einem Fiepen hinter meinen Schläfen, und ich sah nur noch, wie der Mund des Polizisten sich öffnete und wieder schloss. Flavio stand mit verstrubbelten Haaren in seiner Zimmertür und beobachtete, wie die Polizisten mich beiseiteschoben und in unsere Wohnung gestiefelt kamen. Schließlich schlurfte auch Herr Wedekind herein und wich meinen Blicken aus. Die Polizisten fanden das Gras innnerhalb weniger Minuten. Wir gaben sofort alles zu und wurden eine Woche beurlaubt.
     
    |86| Als ich anschließend meinen Dienst wieder antrat, kam Andreas mit gesenktem Kopf auf mich zu. »Hat dir noch keiner gesagt, oder?«, fragte er. »Hilfst du nachher, Luises Zimmer auszuräumen? Ihre Familie kommt auch.«
    Im Laufe der Monate waren regelmäßig Bewohner gestorben. Wir hatten die persönlichen Gegenstände aus den Zimmern gebracht, den Familien die Hände geschüttelt und anschließend die Betten neu bezogen. Auf eigenartige Weise aber waren Fietje und Luise unsterblich gewesen. Selbst Fietjes Tod hatte nichts an Luises Unsterblichkeit geändert, ganz egal, wie zerbrechlich sie zum Schluss gewesen war.
    Nach dem Mittagessen ging ich rauf zu ihrem Zimmer, wo ihre Angehörigen damit beschäftigt waren, in ihren Habseligkeiten herumzuwühlen.
    »Herzliches Beileid«, sagte ich zu dem Mann, der wohl ihr Sohn war. Er sah sich flüchtig zu mir um, bedankte sich knapp und kramte dann weiter in einer der Schubladen.
    »Entschuldigen Sie«, setzte ich an, »aber Ihre Mutter wollte mir schon seit einer ganzen Weile ihre alten Filmplakate zeigen, die sie hier noch im Keller hat. Irgendwie sind wir nie dazu gekommen. Darf ich die kurz raussuchen und mir angucken, bevor alles weg ist?«
    »Filmplakate?«, fragte der Mann.
    »Die aus den Vierzigern. Aus Berlin.«
    »War deine Mutter mal in Berlin?«, wollte seine Frau wissen, aber der Mann schüttelte den Kopf.
    »Die Filme, die sie in Babelsberg gedreht hat«, sagte ich, und er sah mich an, als hätte ich einen schlechten Scherz gemacht.
    »Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Meine Mutter hat keine Filme gedreht.«
    »Und was ist mit der Autogrammkarte?«
    Der Mann erhob sich, nahm die Karte und betrachtete sie einen Moment lang. Schließlich drückte er sie mir in die Hand und sagte: »Das ist nicht meine Mutter.«
    |87| Ich starrte die Frau auf dem Foto an. Schlagartig bemerkte ich, wie wenig Ähnlichkeit sie mit Luise hatte, aber es fühlte sich an, als sei mir eine Augenbinde in einem stockfinsteren Raum abgenommen worden. Obwohl ich sehen konnte, sah ich nichts.
    »Wer ist das denn dann?«, fragte ich, doch der Mann wandte sich ab.
    »Was weiß ich«, sagte er. »Kann das altdeutsche Gekritzel auch nicht lesen.«
    In dem Moment holte seine Frau ein Lederetui mit goldenem Aufdruck aus der Nachttischschublade, in dem sich Briefe und Fotos befanden, von denen Luise mir einige gezeigt hatte.
    »Das sind vertrauliche Sachen«, sagte ich, aber die Frau ignorierte mich.
    »Ich glaube, Sie gehen jetzt besser«, sagte der Mann und fügte spöttisch hinzu: »Die Autogrammkarte von meiner Mutter können Sie behalten.«
    Als die beiden verschwanden, um den Papierkram zu erledigen, schnappte ich mir das Etui und warf die Briefe und Fotos später ins Hafenbecken. Die meisten.
     
    Am selben Tag musste ich noch bei der Verwaltung vorstellig werden, um mich zu den Drogengeschäften zu äußern. Herr Wedekind saß ebenfalls im Raum, wagte nicht, mir in die Augen zu schauen, und war von einer merkwürdig erschöpften Traurigkeit umgeben. Als sie mich fragten, ob ich es bereute, Drogen verkauft zu haben, nickte ich. Ich wäre gerne mit Luise zu Fietjes Grab gegangen.
    Die letzten Wochen unseres Zivildienstes durften Flavio und ich noch ableisten, und vor Gericht kamen wir mit ein paar Sozialstunden und einem Bußgeld davon. Bei Herrn Wedekind haben wir uns nicht entschuldigt.

|88| November 1998
    Eisiger Wind stach mir in die Nase wie ein jodbeschmiertes Wattestäbchen, als ich auf dem Weg durch den Kiez war, um mir eine Portion Pommes zu holen. Ich bog in eine belebte Straße ein, hörte erst das Gewirr aus Stimmen und Musik,

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