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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sich immer seltener. Wir sahen uns nur noch sporadisch, und unsere Gespräche wurden oberflächlicher. Schließlich fing ich an, ihr hinterherzutelefonieren. Es hatte Frauen gegeben, die mir derartig auf die Pelle gerückt waren; mit jedem Anruf hatten sie mich weniger interessiert, und mit Flavio hatte ich mir das Maul über sie zerrissen. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, mich bei Pia zu melden. Mehrfach am Tag hinterließ ich Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, nervte ihre Mitbewohner und war frustriert, wenn sie sich nicht sofort zurückmeldete. Irgendwann war es nicht mehr nur Pia, der ich hinterhertelefonierte. Alles, was ich von mir preisgegeben hatte, meine ganze Vergangenheit, schien mir abhandengekommen zu sein. All die Dinge, die sie von mir wusste und die ich nicht einmal Flavio erzählt hatte, schienen auf einmal nicht mehr wert zu sein als ihre zusammengeramschten Schwarzweißfotos, über die sie sich kurz freute, um sie anschließend wegzuheften.
     
    Eines Abends stand ich auf einer Party, zu der sie mich erst nach einer längeren Diskussion mitgenommen hatte, in einer WG-Küche und hielt einen BWL-Studenten am Kragen. Einen dieser verhätschelten Kerle mit Mecki-Putz und Doppelkinnansatz, die auch mit Mitte zwanzig noch aussehen, als hätte ihre Mutter sie angezogen. Ich starrte ihm in die Augen und konnte ihm ansehen, dass er in seinem ganzen Leben noch kein Problem gehabt hatte, das nicht durch Papas Geld oder Anwälte zu lösen gewesen wäre. Er hatte sich mit Pia über Uni-Zeug unterhalten, das ich nicht verstanden hatte. Schließlich war ich sauer geworden, weil Pia mich nicht beachtet |119| hatte. Als sie aufs Klo verschwunden war, hatte ich ihn gepackt und hörte mich dann wieder und wieder fragen: »Willst du mich verarschen?«
    Dabei wurde ich lauter. Seine Kommilitonen standen wie gelähmt neben uns und starrten mich an. Nichts, was der Kerl hätte antworten können, hätte irgendetwas geändert, aber ich wiederholte völlig ziellos die Frage und wurde wütender, je länger er mich mit seinen Schweinchenaugen anglotzte. Obwohl ich zwei Köpfe größer war als er und ihn dicht an mich heranzerrte, zeigte er sich nicht beeindruckt. Auch als ich ihn gegen den Küchenschrank drückte und ununterbrochen den Satz abspulte, reagierte er nicht. Schließlich sah er an meiner Schulter vorbei zur Küchentür und fragte: »Was findest du eigentlich an dem Affen?«
    Sofort rotierten Windmühlenflügel vor meinen Augen. Ich ballte meine Faust, um ihm eine reinzuzimmern oder wenigstens hart neben seinen Kopf gegen die Schranktür zu schlagen, um ihm einen Schreck einzujagen. Aber dann hörte ich Pia.
    »Das war nur so.«
    Das Echo des Satzes schwebte im Raum. Ich schluckte. Augenblicklich fiel alle Anspannung von mir ab, und ich stand wie nackt in dieser WG-Küche voller Fremder, die mich angafften.
    »Reicht jetzt«, sagte Pia in einem Ton, als würde sie einen unfähigen Handwerker aus der Wohnung schmeißen. Ich ließ den Kerl los und huschte an ihr vorbei aus der Küche, ohne sie anzusehen.
    Die paar Schritte durch den Flur zwischen all den Leuten hindurch waren die längsten Meter meines Lebens. Als ich die Wohnung verlassen hatte, war ich wieder der kleine Junge hinter dem Altglascontainer.
    Vier Stockwerke und siebzig Stufen dauerte es, bis ich beschlossen hatte, dass ich mich so nie wieder fühlen würde.

|120| August 1985
    Als ich aus der müffelnden Umkleidekabine in die Sporthalle geschlurft kam, war das Erste, was ich von Herrn Rüdiger, meinem neuen Sportlehrer, mitbekam, seine Stimme. Wie eine Bulldogge mit Rasierklingen in der Kehle.
    »Zehn Minuten warm laufen!«, rief er, in die Hände klatschend, und verschwand ohne weitere Worte in seinem Kabuff neben der Mädchenumkleide.
    Sportunterricht hatte bis dahin aus Völkerball oder Fußball bestanden, und ich war noch nie zehn Minuten am Stück gelaufen. Aber als ich sah, wie meine Mitschüler sich ohne zu murren in Bewegung setzten, lief ich ebenfalls los. Nach fünf Runden spürte ich einen Krampf in den Waden und ein Stechen in der Seite. Zwei weitere hielt ich durch, doch schließlich warf ich mich mit brennender Lunge auf eine der Weichbodenmatten zum Verschnaufen. Irgendwann hockten wir zu dritt auf der Matte. Manche Mitschüler liefen stur ihre Runden, aber immer mehr von uns setzten sich mit hochrotem Kopf ab. Einige Minuten vergingen, wir alberten herum, und schließlich bemerkte ich Herrn Rüdiger, der mit gerunzelter Stirn

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