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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Rapsfelder, die sich mehrere Kilometer leicht ansteigend hinzogen. Mit Ausnahme einer Scheune waren weder Häuser, Strommasten noch irgendein anderes Zeichen menschlichen Lebens zu entdecken. Ich stand oft am Fenster, lehnte meine Stirn an die Scheibe und sah zu, wie sich das Feld bewegte. Wenn es windig war, wogte es wie Wasser unter einer knallgelben Decke. Ich kniff ein Auge zu, legte den Kopf schräg und dann schaukelte die Scheune wie ein abgetakeltes Schiff auf den Wellen hin und her. Wäre jemand in einem solchen Moment durch das Feld zur Scheune gegangen, wäre er wie ein Ertrinkender dem rettenden Boot entgegengeschwommen. Vielleicht hätte ich dann das Spiel, das ich mir mit Ingrid an unserem Fenster ausgedacht hatte, mit mir alleine gespielt.
    Unser Garten war zum einen Nutzgarten, wo wir im Frühling Erdbeeren oder Kohlrabi und später im Jahr Grünkohl anpflanzten, zum anderen gab es Blumenbeete. Der größte Teil war Rasenfläche mit angerosteter Schaukel und einem Sandkasten, der an eine Terrasse aus Waschbetonplatten grenzte. Außerdem gehörten ein Stall und eine kleine Weide zum Heim, auf der wir ein paar Ziegen und Schafe, Hühner und Enten sowie einen Esel namens Chico hielten. Während die meisten Kinder keine Lust auf die Stalldienste hatten, meldete ich mich oft freiwillig, um meine Ruhe zu haben. Eine Weile schaufelte ich dann Mist oder füllte die Futterkrippen auf. Meistens blieb ich anschließend noch im Stall sitzen und sah den Tieren beim Rumstehen zu. Der Stall war |145| eine zusammengezimmerte Bretteransammlung, und viele waren so unsauber aneinandergenagelt, dass man durch die Spalte rausschauen konnte. Ein Fenster gab es nicht, nur eine kleine Luke. Ich mochte den Geruch von modrigem Holz, den strengen Gestank der Ziegen und das Würzige des Mistes. Außerdem war unter all den unterschiedlichen Gerüchen der Qualm meiner Zigaretten nicht so leicht zu bemerken. Andere Kinder versteckten sich zum Rauchen auf dem Klo oder im Keller und wurden dort immer wieder erwischt; ich setzte mich in den Stall, obwohl Werner uns in seiner übervorsichtigen Art wieder und wieder eingebläut hatte, es nicht zu tun. Es war nie etwas passiert. Eines der ersten Male hatte ich die Glut bewusst lange ans Stroh gehalten und zugesehen, wie es kokelte, aber ich musste nur einmal drauftreten, um es zu ersticken. So leicht verbrennt man nicht.
    Einmal hatte Werner mich aber überrascht, als ich mich mit Chico unterhalten hatte. Mir selbst war mein Gemurmel erst aufgefallen, als Werner in der Tür stand und mich besorgt ansah. Ich hatte nicht nur die Lippen bewegt und in mich hineingebrummelt, sondern hörbar geredet.
    »Alles in Ordnung, Rick?«, fragte Werner.
    »Ja.«
    »Wollen wir uns unterhalten?«
    Ich starrte Chico an, der genau in dem Moment blinzelte und nickte. Aber von einer Sekunde auf die andere war er nicht mehr Chico, mein Gesprächspartner, sondern nur noch ein stinkender Esel, dem die eigene Scheiße am Bein klebte. Werner lehnte sich an den Futtertrog.
    »Was erzählst du ihm denn so?«, wollte er wissen, aber ich zuckte mit den Schultern. »Bist du traurig?« Ich schüttelte den Kopf. »Kannst du mir auch erzählen, wenn du magst. Behalte ich genauso für mich wie Chico«, sagte er und wedelte eine fette Fliege beiseite. »Denkst du an deine Mutter?«, fragte er, aber ich schüttelte den Kopf, und es war ehrlich.
    Werner nickte. »Ist es besser, mit jemandem zu reden, der |146| nicht antwortet?«, hakte er nach, aber auf merkwürdige Weise gab Chico mir Antworten. Antworten, auf die ich selbst nicht kam, wenn ich alleine in meinem Zimmer oder beim Laufen grübelte. Erst in Werners Gegenwart wurde mir bewusst, dass Chico sogar eine Stimme besaß. Eine rauchige, versoffene Stimme, die zu seinen Schlafzimmeraugen und seinem ewig kauenden Maul passte, mit dem er aussah, als würde er ununterbrochen auf Kautabak herumknatschen.
    »Muss ich mir Sorgen machen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Genau das war der Grund, warum ich mit Chico sprach: weil er sich nie Sorgen machte. Er hörte einfach zu und sagte gelegentlich Sachen wie:
Schon okay, Cowboy. Das wird schon.
    »Bist du hier fertig im Stall?«, fragte Werner.
    »Ja.«
    »Kommst du mit rein? Regnet bestimmt gleich.«
    »Ich bleib noch einen Moment.«
    Seinen Kopf gegen zwei Latten drückend, lugte Werner hinaus. »Regnet gleich«, wiederholte er. Bevor er aus dem Stall schlurfte, warf er Chico einen flüchtigen Blick zu, als würde er sich auch von

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