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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ihm verabschieden.
    »Dass der sich immer Sorgen machen muss«, murmelte ich, als Werner verschwunden war. Chico wackelte mit dem Kopf und sagte: »Du bist ihm halt wichtig.« Aber ich zuckte nur ein weiteres Mal mit den Schultern.
    »Doch«, sagte Chico, »das ist nicht schlimm, wenn er sich Sorgen macht. Der macht das nicht, um dich zu nerven. Das ist ehrlich.«
    »Vielleicht«, sagte ich, erhob mich und blickte aus der Luke auf die Felder.
    In gemächlichen Wogen schaukelte der Raps hin und her. Den ganzen Tag über war es warm gewesen, dann hatte sich der Himmel nach und nach zugezogen, und die Luft war drückend und stickig geworden. Die Schafe blökten. Ich gab Chico einen Klaps auf den Hals und verließ den Stall. Im |147| Garten sammelten einige Kinder ihre Sachen zusammen und liefen über die Terrasse ins Haus. Als es donnerte, spürte ich die Vibrationen im Boden. Schwalben sausten quietschend über den Garten, und die Blätter der Bäume rauschten, Blüten vom Süßkirschbaum wehten umher. Ich kletterte über das Gatter der Weide in den Garten, wo die Schaukeln im Wind trudelten und gegen das Gerüst klirrten. Von der Hecke war ein leises Flirren zu hören, und ich konnte den Regen riechen, noch bevor der erste Tropfen gefallen war. Auf der Weide meckerten die Ziegen, und die Tür schlug gegen den Stall. Mit geschlossenen Augen spürte ich den Wind im Gesicht, auf meinen Lippen, und wie er mir die Haare zerwühlte. Eine kräftige Böe wehte ums Haus, und ich schwankte, bevor die ersten Tropfen auf meine Stirn kleckerten. Dann breitete ich meine Arme aus, drehte die Handflächen nach oben, und in dem Moment wurde das Nieseln zu Regen. Bald konnte ich keine einzelnen Tropfen mehr unterscheiden, es fühlte sich an wie ein einziger Schwall Wasser. Eine Weile blieb ich unbeweglich stehen. Schließlich waren meine Haare klitschnass, das T-Shirt klebte mir am Körper, und das Wasser lief mir in die Hose, die Beine hinunter und in meine dünnen Stoffschuhe.
     
    »Richard!«, hörte ich Werners Stimme. Wenn er mich Richard nannte, war es ihm ernst. »Du kommst jetzt sofort rein«, rief er, weit aus der Terrassentür gelehnt, und klopfte mit den Knöcheln gegen die Scheibe. Aber ich blieb mit ausgebreiteten Armen im Regen stehen.
    »Mensch, bist du verrückt?«, brüllte er. Ich legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und öffnete den Mund, sammelte Wasser und spuckte es als kleine Fontäne wieder aus. Werner fluchte. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn in gebückter Haltung auf mich zuhasten. Über dem Kopf hielt er mit beiden Händen eine Jacke, und sein in den Himmel gerichteter Blick wirkte regelrecht panisch, als erwarte er einen |148| Steinschlag. Er warf mir die Jacke über und zerrte mich hinter sich her ins Haus.
     
    Als wir drinnen waren, schnappte er sich eine Wolldecke vom Sofa und rubbelte mir über den Kopf und die Arme.
    »Mensch, willst du dich umbringen, Richard?«, fragte er. »Willst du das?«
    Eine atemlose Sekunde lang standen wir uns stumm gegenüber, dann verpasste er mir eine schallernde Backpfeife.
    Ich war so überrascht, dass ich ihn nur angaffte. Seit ich ins Heim gekommen war, hatte ich keine mehr gescheuert bekommen. Aber es fühlte sich anders an als die Ohrfeigen, die ich von Mutter kassiert hatte, weniger wie eine Strafe, sondern mehr wie ein Wachrütteln. Irgendwie liebevoll.
    Erschrocken von sich selbst, hielt sich Werner die Hand vor den Mund. »Entschuldige, Rick.« Er legte die Decke beiseite und nahm mich, triefend nass, wie ich war, in den Arm und drückte mich fester an sich, als er es vorher jemals getan hatte. Schließlich ließ er mich los, setzte sich auf einem Tisch ab und sah mir in die Augen.
    »Mensch, Rick, mit dieser Tschernobyl-Sache muss man jetzt doch vorsichtig sein«, sagte er. »Weiß doch niemand, was da alles runterkommt. Da haben wir doch letzte Woche lang und breit nach dem Essen drüber gesprochen. Warum hast du das denn gemacht?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Das war einfach nur Wasser.«
    »Nein, Richard, das ist eben nicht nur Wasser«, sagte Werner und griff sich wieder die Decke. »Das ist gefährlich heutzutage. Zieh mal das T-Shirt aus, das werfen wir gleich weg.«
    »Passiert schon nichts«, sagte ich und beobachtete, wie er zusehends ärgerlicher wurde, je mehr ich zeigte, wie egal mir das Ganze war. Ich musste an Chico denken.
    »Das kannst du jetzt noch gar nicht wissen, Richard«, sagte Werner lauter.
    |149| »An die Zukunft

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