Nachtleben
mehr ausgehalten, ihm in die Augen zu schauen, so fertig sah er aus. Aber als wir mitbekamen, dass er Hilfe beim Ausmisten des Ladens brauchte, standen wir zusammen mit einigen anderen Leuten an einem Samstagvormittag verkatert und übernächtigt bei ihm auf der Matte.
Schmidt war wie ein Geist an diesem Tag, huschte vom einen Raum in den anderen, sah sich hektisch um und stand dann wie im Halbschlaf in irgendeiner Ecke. Im nächsten Moment lehnte er wieder an der Theke, bewegte die Lippen und gestikulierte dabei mit den Händen, als müsse er noch alte Gespräche beenden.
Nach einer Weile machte ich eine Pause vom Schleppen und setzte mich ihm gegenüber auf einen Hocker ins schwache Licht der Thekenbeleuchtung. Die Vorhänge vor den Buntglasfenstern waren zugezogen, nur durch die offenstehende Eingangstür fiel Tageslicht in die Kneipe. Aus dem Keller rumpelte es, und von draußen hörte man die Stimmen der anderen, die etwas auf die Ladefläche eines Lasters hievten. Schmidt hatte mich noch nicht bemerkt.
»Alles okay bei dir?«, fragte ich.
Er erwachte und zuckte mit den Schultern. »’n Bier?«
Als ich nickte, pulte er die letzte Flasche aus der Pappe |142| eines Sechser-Trägers und öffnete sie. Routiniert warf er den Kronkorken in die Ecke, in der der Mülleimer gestanden hatte, aber er klapperte blechern auf die Fliesen. Schmidt ließ sich nichts anmerken.
»Prost«, sagte er.
»Was hast du jetzt vor?«
»Stütze. Habe ja nur Schulden. Die werde ich auch nicht mehr los.«
»Und dein Sohn?«
»Den frage ich nicht«, sagte er entschieden. In dem Moment rief Flavio aus dem Keller herauf: »Soll das hier unten alles weg?«
»Das muss alles raus«, bölkte Schmidt zurück.
»Wo ist Rick?«
»Ich komme gleich runter. Mache nur kurz Pause.«
»Toll!«
»Danach bist du dran mit Pause, und dann klotzen wir noch mal richtig ran.«
»So ’n paar Sachen hier sind echt noch brauchbar, Schmidt«, drang Flavios Stimme wieder die Treppe rauf.
»Kannst dir nehmen, was du brauchst.«
»Kann ich den Sandsack und die kleinen Hanteln haben?«
»Welchen Sandsack?«
»Den blauen. Die anderen beiden sind Schrott.«
Einen Moment lang sah Schmidt sich dabei zu, wie er mit dem Daumennagel am Etikett einer leeren Bierflasche herumknibbelte. »Nimm mit.«
»Man dankt!«
Schnaufend sah Schmidt sich in der Kneipe um und fragte: »Könnt ihr mir nacher noch die Jukebox in meine Wohnung hochtragen?«
Ich nickte. »Denkst du noch öfter an Pete?«, hörte ich mich fragen.
Schmidt sah mich einen Moment lang unschlüssig an. »Sam«, sagte er schließlich, aber ich verstand nicht. »Sam hieß |143| er. Samuel Kikwete. Aus Tansania«, erklärte Schmidt, aber ich nahm einen Schluck Bier und begriff noch immer nicht.
»Und wieso sagt er, er wäre Pete aus Nigeria?«
»Nigeria ist ’ne Militärdiktatur, Tansania ist einfach nur so scheiße«, antwortete Schmidt. »Dachte, als politischer Flüchtling hätte er bessere Chancen hierzubleiben. Aber das haben sie ihm nicht abgenommen.«
»Woher weißt du das?«
»Irgendwann saß er heulend in dem Raum, den ich ihm eingerichtet hatte«, sagte Schmidt. »War völlig fertig mit den Nerven. Hatte total Angst, mir das zu sagen.«
»Und die Narben auf seinem Rücken?«
»Hat er sich, ein paar Monate bevor sie losgezogen sind, mit seinen Brüdern selbst gemacht. Wollten behaupten, sie wären gefoltert worden.«
Weil ich nichts zu sagen wusste, steckte ich mir eine Zigarette an.
»Mit Sam hätte der Laden hier gebrummt«, sagte Schmidt. »Da hatten wir schon Pläne. Wir wollten hier afrikanische Küche machen und regelmäßig solche Veranstaltungen wie an meinem Geburtstag. Sam hätte in einem Jahr fließend Deutsch gesprochen, so ehrgeizig, wie er war. Bestimmt.«
»Bist du noch manchmal an seinem Grab?«
Schmidt nickte und strich mit der Hand über die Zapfanlage, als würde er ein in die Jahre gekommenes Haustier streicheln.
»Einmal die Woche. Geh da auch mal hin«, sagte er. »Das ist wichtig, dass sich Leute an einen erinnern.«
»Ey, Rick, jetzt beweg mal deinen Arsch hier runter und hilf mir, den ganzen Scheiß raufzutragen!«, rief Flavio.
»Mache ich.«
Schmidt sah mir hinterher, als ich mich in Bewegung setzte.
»Wenn du noch irgendwas haben willst«, sagte er, »aus dem Keller oder aus Petes … aus Sams Zimmer, nimm’s dir einfach.«
|144| Mai 1986
Hinter der mannshohen Hecke, die den Garten des Kinderheims umgab, blickte ich von meinem Zimmer aus auf
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