Nachtleben
nicht«, sagte er deutlicher, und sie sah ihn überrascht an, bevor ihr Blick wieder auf mich fiel und an mir haften zu bleiben schien. Je länger sie mich anschaute, desto mehr sah ich mich durch ihre Augen. Ich wurde unruhig, als ich bemerkte, wie ich an ihrem Gartenzaun stand, mit meinem rasierten Schädel und knallengen T-Shirt, den Tätowierungen und den Stiefeln. Aber sie trat einen Schritt auf mich zu, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte suchend umher. »Sind Sie lange unterwegs gewesen?«
»Knapp vier Stunden. Mit dem Zug.«
»Vier Stunden«, wiederholte sie. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Lina«, sagte der Mann und es war mehr ein Zischen.
»Ich wollte dir sowieso gerade Bescheid sagen, dass der Kaffee fertig ist.«
|136| »Wir kennen den Mann doch gar nicht.«
»Möchten Sie? Vielleicht fällt mir ja noch ein, wer Ihre Mutter ist«, beachtete sie ihn nicht weiter.
»Gerne.«
Wir traten aus der Hitze des Nachmittags in das kühle Haus. Nach einem gefliesten Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe in den ersten Stock führte, gelangten wir in einen kleinen quadratischen Flur, von dem die übrigen Zimmer abgingen. An der Wand neben einem Zinnteller hing ein Bildchen mit einem christlichen Spruch, und auf der Garderobe über den Jacken stapelten sich Hüte und Mützen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Obwohl durch die geschlossenen Vorhänge nur wenig Licht drang, erkannte ich im Vorbeigehen ein Gemälde mit einer Flusslandschaft über dem Sofa, daneben einen Eichenschrank, auf dessen Bord gerahmte Fotos standen.
»Sonst ist das nicht so dunkel bei uns, aber bei der Hitze«, sagte sie, »da machen wir lieber dicht.«
Der Duft von Kaffee und Kuchen hing in der Luft. Ich folgte ihr in die Küche, und während sie einen Teller für mich aus dem Schrank holte, setzte ich mich an den gedeckten Tisch. Unweigerlich musste ich mir Mutter vorstellen, wie sie als Kind auf genau diesem Stuhl gesessen und sich mit verschränkten Armen geweigert hatte, den Rosenkohl oder was auch immer aufzuessen. Ich sah sie durch die Küche toben, Gläser umstoßen und die Frau, die mir gerade ein Gedeck zusammensuchte, ihr eine Backpfeife verpassen, sah Mutter vorm Kühlschrank hocken und sich einen Pudding rausholen oder den Mülleimer leeren. Mit einem Mal entdeckte ich Variationen dieser Vorstellung in jedem Winkel des Raumes. Die Küche war voller Kinder, die lachten, schrien oder mit verheulten Augen und nur einer Sandale am Fuß auf dem Boden hockten. Eines von ihnen, ein Mädchen, fasste auf eine glühende Herdplatte, zuckte zusammen und sah mich die |137| Schrecksekunde, die der Schmerz brauchte, um das Bewusstsein zu erreichen, erschrocken an. Als sie weinend auf mich zukam und mir ihre gerötete Hand entgegenstreckte, wandte ich mich ab.
»Kuchen?«, fragte die Frau, während sie mir Kaffee einschenkte. Ich rüttelte mich wach und deutete auf den Erdbeerkuchen. »Wir fangen schon mal an. Mein Mann kommt gleich«, sagte sie. Aus dem Badezimmer war das Rauschen von Wasser zu hören. Im Augenwinkel sah ich noch immer das Mädchen, wie es sich auf die Hand pustete und Tränen von der Wange wischte. Ich empfand kein Mitleid.
»So, jetzt erzählen Sie mal von Ihrer Mutter«, forderte mich die Frau auf, nachdem sie mir den Kuchen auf den Teller gelegt hatte, und ich sortierte mich.
»Wir haben lange Zeit keinen Kontakt gehabt, bevor sie letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Und jetzt versuche ich, ihr Leben zu verstehen. Ich weiß, dass sie«, ich stockte, »dass sie sehr jung von zu Hause weggegangen ist.«
Die Frau beugte sich über den Tisch, um sich ein Stück Käsekuchen zu nehmen. Ohne mich dabei anzusehen, fragte sie: »Weggegangen oder weggelaufen? Sahne?«
Ich nickte, und sie hob einen Schlag Sahne auf meinen Kuchen.
»Weggelaufen«, antwortete ich. »In eine größere Stadt.«
Ihren Teller und ihre Tasse zurechtrückend, fragte die Frau: »Und was hat sie dort gemacht?«
Ich nahm einen Schluck des viel zu heißen Kaffees. »Im Rotlichtviertel gearbeitet«, sagte ich leiser.
»Brauchen Sie Zucker?«, fragte die Frau, aber ich schüttelte den Kopf. »Ich kann auch Süßstoff holen, wenn Sie möchten.«
Ihr Mann kam herein, lehnte die Tür hinter sich an und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Er roch nach Seife.
»Alois, Herr Schmidt hat gerade von seiner Mutter erzählt.«
|138| »Hmhm«, machte er und vermied es, mich anzusehen, während er sich ein Stück Kuchen griff
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