Nachtleben
und sie ihm Kaffee einschenkte.
»Seine Mutter ist von zu Hause weggelaufen, hat er erzählt.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«
Beide sahen sich schweigend an und erstarrten für einen Moment. In ihrer Stille schienen sie ein vertrautes Gespräch miteinander zu führen, das sie wortlos hinter sich bringen konnten.
»Meine Mutter«, setzte ich an, aber dann blieb mir die Stimme weg, und ich schob mir einen Happen des quietschsüßen Erdbeerkuchens in den Mund. Die Frau rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und sah mich eindringlich an, als würde sie mich drängen, endlich zu sagen, wer ich war, doch ich bekam keinen Ton heraus. Stattdessen wich ich ihrem Blick aus und schaute mich kauend um, ohne tatsächlich etwas wahrzunehmen. Die Kinder waren verschwunden. Mit einem Mal spürte ich eine tonnenschwere Müdigkeit in mir. Die letzten Minuten am Kaffeetisch stürzten in mich ein, dann die Zugfahrt und schließlich der Rest meines Lebens. Ich schnaufte.
Mit einem Mal hörte ich mich reden: »Ich weiß von meiner Mutter, dass sie nicht das Leben geführt hat, das sie führen wollte. Ich weiß, dass sie viel falsch gemacht hat, und ich würde alles dafür geben, um noch einmal mit ihr reden zu können. Manchmal wünsche ich mir, dass mir jemand erklärt, wer sie gewesen ist und warum sie der Mensch geworden ist, der sie war.«
Die Frau kippte Milch in ihren Kaffee und rührte um, als rühre sie dabei ihre Erinnerungen unter. Ihr Mann stellte seine Tasse ab, hielt den Henkel aber weiter umfasst, während er mich mit bohrendem Blick ansah.
»Ich dachte nur«, fuhr ich fort, »wenn Ihre Tochter meine Mutter gekannt hat, dass Sie sich vielleicht auch an meine |139| Mutter erinnern. Aber die Telefonnummer Ihrer Tochter würde mir auch helfen. Dann würde ich mich an sie wenden. Vielleicht hatte sie später noch Kontakt zu meiner Mutter und weiß, weshalb sie weggelaufen ist, was passiert ist. Ob sie früher vielleicht geschlagen worden ist oder …«
»Wir kennen Ihre Familie nicht«, fiel mir Alois ins Wort, und seine Frau schüttelte mit verkniffenem Mund den Kopf. »Was holst du uns hier fremde Menschen ins Haus?«, sagte er mit einer Stimme wie Metall und erhob sich. »Unsere Tochter ist tot, und Männer wie Sie haben sie auf dem Gewissen! Unsere Tochter wird Ihnen nicht weiterhelfen können, und wir wollen Ihnen nicht helfen. Wir wissen nicht, wer Sie sind, und wir wollen es auch nicht wissen.«
»Alois«, sagte die Frau tonlos, mehr ausgeatmet als ausgesprochen. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt, die rechts und links neben ihrem Teller lagen.
»Was weiß ich, wer wen geschlagen hat«, sagte ihr Mann. »Die meisten Kinder, die Schläge bekommen, haben sie auch verdient. Dafür sind Eltern da. Um sich um ihre Kinder zu kümmern. Wenn Ihre Mutter das bei Ihnen versäumt hat, ist das nicht mein Problem. Sie verlassen jetzt sofort mein Haus.« Er fasste den Tisch mit beiden Händen und zog ihn unter lautem Quietschen und Klappern zurück, damit ich Platz zum Aufstehen hatte.
Seine Frau saß starr auf ihrem Stuhl. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schwer.
Ich stand auf. »Wann ist Ihre Tochter gestorben?«, fragte ich, aber der Mann riss die Küchentür auf und deutete in den Flur: »Raus!«
»Lina?«, fragte ich. Sie sah erschrocken zu mir auf, als ich ihren Namen aussprach. »Wann ist Ihre Tochter gestorben?«
»Das wollen wir nicht wissen!«, brüllte ihr Mann und schlug gegen den Küchenschrank.
Während er durch den Flur zur Haustür marschierte, sagte die Frau mit erstickter Stimme: »Bitte gehen Sie jetzt.«
|140| »Raus aus meinem Haus!«, rief ihr Mann von vorne, und seine Stimme hallte im Treppenhaus wider.
Lina sah mich schüchtern an, als ich ihr mit den Fingerspitzen über den Rücken strich.
»Ihre Mutter hatte sicherlich gute Gründe wegzulaufen«, sagte sie, »aber vielleicht hätte sie auch die Möglichkeit gehabt, zurückzukommen und um Hilfe zu bitten. Eltern lieben ihre Kinder, manchmal auf merkwürdige Weise.« Als sie mich dann anlächelte, war es, als fiele eine jahrealte Staubschicht von ihr ab. »Machen Sie’s gut, Herr Schmidt.«
|141| Oktober 1997
Als der alte Schmidt seine Kneipe dichtmachen musste, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Nach Petes Tod hatte er sich innerhalb eines Jahres konsequent kaputt gesoffen und in den finanziellen Ruin gewirtschaftet. Nach und nach waren die Stammgäste ausgeblieben, und auch Flavio und ich hatten es irgendwann nicht
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