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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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nie sicher gewesen, was der Satz zu bedeuten hatte, aber auf einmal war es mir klar. Es machte keinen Unterschied, was der Pfaffe über Franz wusste und was nicht.
    Nachdem ich mir eine Kippe angesteckt hatte, fing ich an zu erzählen und hörte mir dabei zu, wie ich dem Pastor eine herzzerreißende Geschichte auftischte. Das Ganze war zusammenfabuliert aus dem Wenigen, das ich über Franz wusste, Geschichten, die Fietje oder der alte Schmidt erzählt hatten, Anekdoten, angelehnt an Bücher, die ich gelesen hatte, und Dingen, die mir spontan in den Sinn kamen.
    Ich berichtete von Franz’ harter Jugend an der Küste, wie er erst auf verschiedenen Schiffen angeheuert und anschließend sein Glück in der Stadt versucht hatte, dort auf die schiefe Bahn geraten war, meine Mutter kennengelernt und versucht hatte, ein bürgerliches Leben mit ihr aufzubauen, wie er daran gescheitert, im Knast gelandet und schließlich als kranker Mann und Sozialfall zugrunde gegangen war.
    Dabei staunte ich über mich selbst, wie viele Details ich mir einfallen ließ. Nicht für eine Sekunde machte der Pfaffe den Eindruck, als zweifelte er an dem, was ich erzählte.
    Als ich fertig war, war die Kanne Kaffee ausgetrunken, |176| sechs Kippenstummel lagen im Aschenbecher, und seltsamerweise hatte ich das erste Mal das Gefühl, begriffen zu haben, wer Franz gewesen war.
    Der Pastor bedankte sich für meine Offenheit, und es war angenehm, ihm zum Abschied die Hand zu schütteln. Als wenn man mit Grippe im Bett liegt und ein Hustenbonbon lutscht. Obwohl es nichts bringt, tut es trotzdem gut.
     
    Zwei Tage später stand ich an Franz’ Grab. Während der Predigt und auf dem Weg zur Grabstätte war ich zwar durcheinander und auf eine schwelende Art wütend, aber nicht traurig gewesen. Ich hatte auch keine Tränen gespürt. Aber als sie die Balken unter dem Sarg wegzogen, beiseitewarfen und ihn auf knarrenden Seilen in die Erde ließen, war es, als würde Franz mit glühender Faust und letzter Kraft mein Herz packen, es zusammendrücken und murmeln: Pass auf dich auf, Junge.
    Es fühlte sich an, als quetschte er die Tränen aus meiner Pumpe in die Augen, und sosehr ich es auch versuchte, sie ließen sich nicht unterdrücken. Schlimmer wurde es, als ich hörte, wie die Erde mit klackernden Steinchen auf den Sarg schlug.
    Obwohl die Geschichten, die Franz von früher erzählt hatte, vielleicht nicht mehr waren als das Gestammel, das am Ende einer Runde Stille Post übrigbleibt, mit all dem Bemühen um Richtigkeit einerseits und dem Veräppeln, das eben dazugehört – andererseits, gab es doch eine direkte Verbindung zum Ursprung. Diese Verbindung zu meiner Kindheit wurde jetzt in einem Armengrab verscharrt, auf das sie anschließend einen Kranz legen würden, den ich zwei Nächte zuvor von einem anderen Friedhof geklaut hatte.
    Als ich flennend dastand, legte mir jemand eine Hand wie einen Sack Zement auf die Schulter. Ich drehte mich um, und hinter mir stand der Kerl mit Vokuhila und Stiefeletten aus der letzten Reihe.
    |177| »Moin. Ich heiße Albert«, sagte er. »Kannst mich Berti nennen. Dein alter Herr war ein anständiger Kerl und hat noch was gut bei mir.« Damit drückte er mir die Karte eines Hotels in die Hand und sah mich an. Schließlich blieb sein Blick am Schriftzug auf meiner Brusttasche hängen. »Wenn du mal was brauchst, Geld oder so, oder Ärger hast, meld dich einfach. Kriegen wir hin. Herzliches Beileid.«
    Er gab mir die Hand, und mit einem Mal reihten sich auch die übrigen Leute ein. Stellvertretend für Franz schüttelte ich ihnen allen ein letztes Mal die Hand.

|178| Juni 2003
    An der Theke wurde Milch aufgeschäumt, Geschirr klapperte, und es düdelte Easy-Listening-Musik, während Sara ununterbrochen von ihrer Magisterarbeit in Politikwissenschaften faselte, an der sie gerade schrieb. Ich war angefressen, weil sie alle meine Versuche, das Thema zu wechseln, ignorierte. Immer wieder schielte ich in Richtung der Bedienung und grübelte, ob wir nicht vor ein paar Monaten zusammen im Bett gelandet waren. Meine neuen Stiefel zwackten.
    Seit einer Weile kam Flavio regelmäßig mit einer neuen großen Liebe an, mit der er einige Wochen zusammen war, bevor er schließlich irgendeine andere Frau flachlegte, die dann den Platz ihrer Vorgängerin einnahm. Trotzdem redete er in kürzer werdenden Abständen auf mich ein, dass ich auch versuchen sollte, eine richtige Beziehung zu führen. Weil es mich nervte, dass er mitunter jeden

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