Nachtleben
Fotos, privaten Notizen oder irgendetwas anderes Persönliches. Im Küchenschrank lagen sechs Stangen Zigaretten, deren Steuerbanderolen noch in D-Mark ausgezeichnet waren, und in seinem Nachttisch entdeckte ich ein zerfleddertes Pornoheft, das den Achselhaaren zufolge aus den Achtzigern stammte. Ich sackte die Kippen ein, setzte mich mit einem |173| Bier zu ihm ins Wohnzimmer und guckte Fernsehen, bis der Rettungsdienst kam.
Franz war gestorben wie einer dieser Elefanten, die sich mit ihren abgebrochenen Stoßzähnen und eingerissenen Ohren in den Staub legen und einfach die Augen schließen. Er hatte keine Lust mehr gehabt, und es hatte für ihn keinen Grund mehr gegeben, sich jeden Morgen die Bartstoppeln aus dem Gesicht zu kratzen. Durch die Diabetes und das Gesaufe hatte sich sein Hüftgelenk immer wieder entzündet, war nicht abgeheilt und deshalb eine ständige Quälerei für ihn gewesen. Ein-, zweimal die Woche hatte ich ihm Getränkekisten und Einkäufe in die Wohnung geschleppt, im Haushalt geholfen oder Papierkram erledigt, mit dem er nicht klargekommen war.
Damit er mich erreichen konnte, wenn er mich brauchte, hatte ich aus dem Fundus eines Clubs ein Handy mitgehen lassen und ihm eine Karte dafür besorgt. In der letzten Zeit telefonierten wir fast täglich. Als er sich einmal vier Tage am Stück nicht zurückmeldete, ging ich sicherheitshalber bei ihm vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Franz saß im Unterhemd mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch und spielte Bauernskat gegen sich selbst. Dick und kahl war er geworden.
»Na, Junge«, sagte er und sah dabei nur kurz von den Karten auf. »Alles paletti?«
»Ja. Schon okay«, murmelte ich. »Und selbst?«
»Weißt doch. Wie immer«, antwortete er, bevor er eine der Spielkarten umdrehte und mit den Knöcheln auf den Tisch knallte.
»Brauchst du irgendwas?«, fragte ich.
»Nee«, sagte er. »Alles da, was ich brauche.«
Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Whiskey ein und trank sie schweigend, während ich ihm beim Kartenspielen zuguckte.
|174| Einige Tage vor der Beerdigung empfing mich der Pastor, dem ich vom Sozialamt als Ansprechpartner genannt worden war, um persönliche Daten über Franz für die Trauerrede in Erfahrung zu bringen.
»Trinken Sie Tee oder Kaffee?«, fragte er zum Einstieg.
»Kaffee.«
Er verschwand und ließ mich allein in einem Raum, der wohl bewohnt wirken sollte, aber außer für Gespräche dieser Art sicherlich für nichts genutzt wurde. Durch die Gardinen fiel gedämpftes Licht herein. Alle Gegenstände im Raum, von den Stühlen über die Tischdecke bis zu den Staubfängern auf dem Schränkchen in der Ecke, leuchteten im Orange-Braun der Tapete. Es war, als hockte ich in einem vergilbten Siebzigerjahre-Foto, als hingen die Geschichten unzähliger Toter im flusigen Teppich, als sei das Flüstern und Schweigen der Trauernden wie Postkarten hinter die Anrichten gerutscht.
»Was war der Herr Paulsen denn für ein Mensch?«, fragte der Pastor schließlich, während er mir Kaffee einschenkte.
Mit einem Mal bemerkte ich, wie wenig ich über Franz wusste. Der Pastor sah mir dabei zu, wie ich abwechselnd die mit Goldrand verzierte Kaffeetasse und meine Kippenschachtel anstarrte.
»Seit wann waren Sie denn miteinander befreundet?«, versuchte er, mich in Gang zu bringen. Aber ich war mir nicht mal mehr sicher, ob wir tatsächlich Freunde gewesen waren.
»Er war eher ein Freund meiner Mutter«, sagte ich, und der Pfaffe schien wirkliches Interesse zu entwickeln.
»So«, machte er, »dann kannten Sie ihn schon als Kind?«
»Ja.«
»War er ein enger Freund Ihrer Mutter?«
Ich schnaufte zustimmend.
»Und, entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber sind Sie selbst vielleicht ohne Vater groß geworden?«
Nachdem ich einen Schluck Kaffee genommen hatte, nickte ich.
|175| »Und war Herr Paulsen dann in einem gewissen Maße vielleicht ein Vater für Sie?«
Anstatt zu antworten, fragte ich: »Darf ich rauchen?«
Er langte hinter sich ins Regal nach einem altmodischen Glasaschenbecher. Ich starrte die Luftbläschen im geschwungenen Glas an.
»Könnte Ihre Mutter mir vielleicht noch ein wenig mehr erzählen?«
»Meine Mutter ist tot.«
Langsam schloss er die Augen und schaukelte den Kopf vor und zurück. Sein professionelles Mitleid für Menschen, denen er nie begegnet war, widerte mich an.
De mortuis nihil nisi bene,
hatte Flavio auf seinen Oberarm tätowiert: Über die Toten nichts als Gutes. Ich war mir
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