Nachtleben
erkennen zu können, was geschehen war, aber ich erfasste nur Bruchstücke. Flavios schmerzverzerrtes Gesicht. Eine Klinge. Der Hüne über mir. Ein tröpfelnder Wasserhahn. Eine lächelnde Blondine. Tommasos wütender Blick. Eine Line Speed.
Ich zog die Nase hoch.
Flavio ließ sich neben mich fallen. »Alles in Ordnung?«
»Schon okay.«
»Danke, Rick«, sagte Tommaso schließlich. »Traust dich ja |170| doch was. Hast Herz. Aber pass auf: Die Faust ist immer das letzte Mittel. Das allerletzte. Festhalten und die Leute unter Kontrolle bekommen. Nicht krankenhausreif schlagen. Da haste schneller Anzeigen am Arsch, als du denkst. Die kommen sowieso.« Ich nickte. »Willst du hier arbeiten?«
Flavio sah mich abwartend an.
»Ja«, sagte ich und streckte meine Finger, an denen ich noch immer das Kinn des Typen spürte. »Ja, auf jeden Fall.«
»Gut«, sagte Tommaso. »Dann zeige ich euch die Tage so ’n paar Griffe. Oder fragt mal Ayhan, der ist Kickboxer. Vielleicht könnt ihr mit dem trainieren gehen. Und Rick, du musst echt was mit deinen Haaren machen. Rasier dir mal ’ne Glatze oder so. Du siehst irgendwie zu niedlich aus.«
»Wird gemacht«, sagte ich und zog erneut die Nase hoch.
Bevor wir wieder nach vorne zur Tür gingen, schielte ich noch auf die Kopie des Personalausweises von dem Milchbubi und merkte mir seinen Namen und die Adresse.
|171| August 2002
Die Trauergemeinde auf Franz’ Beerdigung bestand fast ausnahmslos aus Veteranen der goldenen Kiezjahre, Überlebende einer Zeit, bevor die harten Drogen, die Waffen und die Ausländer gekommen waren. Einer Zeit, in der man als harter Kerl galt, wenn man die Dinge mit der Faust und eben nicht mit der Knarre regelte.
Wenn ich mit ihnen und Franz in irgendwelchen Kneipen zusammensaß und sie von früher erzählten, war es oft, als erinnerten sie sich an Pixi-Bücher oder Postkartenmotive. Daran, wie familiär es zugegangen sei, von Weihnachtsfeiern, die die Zuhälter mit ihren Huren gefeiert und wie sehr sie die Frauen damals respektiert hätten. Ihre Stammtische waren Zeitmaschinen, und jeder heruntergestürzte Korn kurbelte sie um Jahre zurück.
Unter anderem war der fette Heinz zur Beerdigung gekommen, hockte da und tupfte sich unablässig mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. In seinem Imbiss hatte Franz seit einigen Jahren Hausverbot gehabt, weil er seine Deckel nie anständig beglichen hatte. Jetzt lag Franz in der Kiste, und Heinz stand Pipi in den Augen. Neben ihm saß Hanne, der Franz bei einem seiner Wutanfälle einmal den linken Arm gebrochen hatte. Aus irgendeinem Grund liebte sie ihn trotzdem abgöttisch und heulte jetzt Rotz und Wasser. Sie war mit Klunker-Manni aufgelaufen, der sie irgendwann vom Strich weg geheiratet hatte und sein Geld mit Sportwetten machte.
Außerdem waren noch ein paar andere Saufkumpane und in die Jahre gekommene Huren und Thekenfrauen aufgelaufen, |172| darunter einige Gestalten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. In der letzten Reihe saß nur ein einziger Kerl in Jeanshemd und -hose mit Vokuhila, Schnurrbart und schneeweißen Stiefeletten. Ich hockte in der ersten Reihe und hörte dem Pfaffen dabei zu, wie er in schlecht geschauspielertem Ton seine Predigt herunterleierte. Immer wieder zupfte ich an dem Tuch herum, das aus meiner Brusttasche hing und mit dem ich erfolglos versuchte, den in gelben Buchstaben aufgestickten Namen der Security-Agentur zu verdecken, von der ich das Jackett hatte.
Einige Tage zuvor hatte ich Franz tot in seiner Wohnung gefunden, zu der ich seit seiner zweiten Hüftoperation einen Schlüssel besaß.
Als ich das Wohnzimmer betrat, hockte er mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Sofa, als sei er eingenickt, und in der Glotze lief ein Bericht über das Hochwasser im Osten. Es hätte ihm Spaß gemacht, sich anzugucken, wie die Ossis durch das knietiefe schlammige Wasser in ihren Wohnungen stapften und darüber heulten, dass alles, was sie sich aufgebaut hatten, davongespült worden war.
»Von meiner Steuerkohle haben die sich ihre Häuschen gebaut. Von meiner Kohle!«, hätte er geschimpft. Ich hätte gelächelt, genickt und nicht angesprochen, dass er, seit er aus dem Knast gekommen war, von der Stütze lebte.
Bevor ich den Rettungswagen rief, hatte ich noch die Wohnung durchsucht, aber alles, was ich fand, waren alte Fernsehzeitungen, Siebzigerjahre-Tischdecken, Kerzenständer und ähnlicher Plunder. Es gab keine Schallplatten oder Bücher, keine
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