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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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den Mund. »Fettig ist es, aber ich laufe regelmäßig. Das macht nichts. Treibst du Sport?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Solltest du machen, dann müsstest du jetzt nicht hungern. Das ist auf Dauer auch nicht gesund.«
    Ingrid starrte die noch im Aschenbecher glimmende Zigarette an. »Außerdem ist das Cholesterin pur«, sagte sie.
    »Ich habe gerade neulich gelesen, dass es eine Langzeitstudie gibt, an der über fünfzigtausend Frauen teilgenommen haben«, sagte ich mit vollem Mund, »die belegt, dass es überhaupt keine Vorteile bringt, auf Fett zu verzichten. Das Risiko für Krebs, Schlaganfälle oder Herz-Kreislauf-Geschichten bleibt genau dasselbe.«
    |231| »Ja, genau«, sagte Ingrid. »Und wer hat die Studie durchgeführt? Die Ronald-McDonald-Stiftung?«
    Mit einem überraschten Lacher hustete ich mir Rühreibrocken in die Nase, aber Ingrid starrte aus dem Fenster, ohne mich zu beachten, und erklärte das Gespräch damit für beendet.
    Auf dem Parkplatz war der Mann noch immer am Telefonieren und lief mit energischen Schritten auf und ab. Alle paar Meter beugte er seinen Oberkörper vornüber, als würde er einen Sack Kohlen schultern, wobei ihm jedes Mal sein piefiger Tennisvereinscheitel in die Augen fiel. Anschließend richtete er sich ruckartig auf, warf den Kopf in den Nacken und schmierte sich die Haare zurück über die Stirn. Drei Runden sahen wir ihm zu, bis er hektisch das Handy wegsteckte und erstarrte. Die Kinder kamen angelaufen. Einige Meter entfernt war seine Frau stocksteif stehen geblieben und musterte ihn wie einen Fremden. Der Mann kratzte sich am Nacken, sah sich um und starrte schließlich, die Hände in die Hosentaschen gebohrt, in eine Öllache auf dem Boden. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ging die Frau zum Auto und stieg wortlos auf der Beifahrerseite ein. Als die Kinder in den Wagen gesprungen waren, schlug der Mann die Tür hinter ihnen zu, und sein Blick tauchte wieder in die Lache. Durch die Scheibe der Beifahrertür war zu erahnen, dass die Frau sich Tränen aus dem Gesicht wischte.
    »Was ist da denn los?«, fragte Ingrid.
    »Familienleben halt«, antwortete ich. Ein Happen des angekokelten Würstchens knirschte zwischen meinen Backenzähnen.
    »Du musst nicht so tun, als wärst du im Heim glücklich gewesen, Richard«, sagte Ingrid. Mit kerzengeradem Rücken saß sie mir gegenüber, als würde sie einen Krug Wasser auf dem Kopf balancieren. Ich starrte sie an. »Verstehe schon, wenn du irgendwie sauer auf mich bist«, fuhr sie fort. »Wir |232| können gerne über alles reden, Richard. Aber solche Kommentare sind echt keine Hilfe.«
    »So war das gar nicht gemeint. Das war schon okay im Heim«, sagte ich und schob grinsend hinterher: »Das war nicht so eins mit sadistischen Nonnen oder so.«
    Als könne sie mich aus einem anderen Winkel besser sehen, legte Ingrid den Kopf schief und setzte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. In dieser Position verharrte sie regungslos. Nachdem ich sie einen Moment lang unschlüssig angesehen hatte, legte ich mein Besteck auf den halbvollen Teller.
    »Muss ich mir jetzt eine harte Kindheit ausdenken?«, fragte ich, bemüht zu lächeln.
    »Nein, du musst es für mich aber auch nicht schönreden. Sag mir einfach ganz ehrlich, wie es für dich gewesen ist. Ich komme damit schon klar.«
    In Gedanken wiederholte ich ihren letzten Satz, schob meinen Teller beiseite und griff nach der Zigarettenschachtel. Ein Stück neben uns setzte sich ein Kerl in verschmiertem Blaumann auf einen Hocker vor einen Geldspielautomaten und warf Kleingeld ein. Ich schielte zu ihm hinüber.
    »Ich hab’s echt einfach gehabt, Ingrid«, sagte ich schließlich, steckte die Kippe zwischen meine Lippen, nahm sie aber sofort wieder heraus, ohne sie angezündet zu haben. »Ich habe halt einfach immer so mein Ding durchgezogen.« Aus irgendeinem Grund wollte mir dann nicht einfallen, was es noch über mich zu erzählen gab. »Lief immer irgendwie.«
    Mein Blick driftete ins Leere, und ich glitt in eine lauwarme Schwerelosigkeit. Für einen Augenblick wurde die Welt porös, löste sich auf, doch bevor ich erkennen konnte, was sich hinter ihr verbarg, zog sich der Fokus für die Realität wieder scharf, und ich bemerkte, wie Ingrid vor mir saß. Sie hockte mir gegenüber wie eine meiner verquasten Lehrerinnen früher, wenn ich mal wieder Hausaufgaben vergessen oder den Unterricht geschwänzt hatte. Verständnisvoll dem |233| Heimkind lauschend. Wohlwollend alles

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