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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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flüsterte sie.
    »Kennst du das schon?«, fragte ich, aber sie schüttelte den Kopf.
    »Seite hundertachtzehn, zweiter Absatz, bei der Ausgabe. Beste Stelle im Buch.« Als Merle sofort blätterte, legte ich meine Finger auf die Seiten. »Das zählt nicht«, sagte ich. »Außerdem musst du beim Lesen den Calvados parat haben und jedes Mal, wenn die eine Flasche trinken, trinkst du ein Glas.« Merle nickte meine Regieanweisung ab und schob mein Geschenk mit dem Zeigefinger auf mich zu.
    »Was wird das jetzt?«, fragte ich. »Meine letzte Kippe? Und dann hast du noch ein Nichtraucher-Buch dabei?«
    »Nee«, lachte sie. »Besser.«
    Ich wickelte es aus und hielt ein vergoldetes Koks-Röhrchen in den Händen, oben für den Nasenansatz verdickt, unten trichterförmig nach außen gewölbt.
    »Ich war doch neulich in Amsterdam«, sagte sie. »Musste ich sofort an dich denken, als ich das gesehen habe.«
    Ungläubig spielte ich mit dem Ding herum. Hätte Flavio mir ein Koks-Röhrchen geschenkt, hätten wir es sofort eingeweiht, aber es von Merle geschenkt zu bekommen fühlte sich merkwürdig an. Als würde einem die eigene Oma ein Pornoheft zustecken.
    »Hm«, machte ich.
    »Was denn?«
    »Ist das ein Zeichen?«
    |223| »Wieso?«
    »Machst du dir Sorgen um mich?«
    »Nee«, sagte sie kopfschüttelnd. »Kokst du nicht mehr? Oder Speed oder so?«
    »Doch. Schon noch.«
    »Dann ist das doch super, oder nicht?«
    »Na ja,
super
geht anders. Komisch.«
    Merle ließ enttäuscht die Schultern sinken, und ich musste lachen.
    »Nein, ist schon toll«, sagte ich. »Danke. Ich wollte nur ein bisschen kürzer treten, und das ist jetzt, als ob du einem gerade trocken gewordenen Alki Schnapsgläser schenkst.«
    »Oh.«
    »Schon okay. Wird schon noch Verwendung finden.«
    »Ich gucke mal nach den Keksen«, sagte Merle leise und erhob sich. »Was schenkst du denn deinen Großeltern?«
    »Bücher. Außerdem Pralinen für Oma und eine Flasche guten Whiskey für Opa. Die wollen sonst nix.«
    »Das finde ich total toll, dass du zu denen fährst.«
    Ich rieb mir durchs Gesicht. »Ja. Die haben ja sonst niemanden. Und wer weiß, wie lange die es noch machen. Die freuen sich auch richtig.«
    »Bleibst du die ganzen Feiertage bei denen?«
    »Ja. Fahre auch schon einen Tag früher hin.«
    »Kommt deine Schwester auch?«, wollte Merle wissen.
    »Nee.« Ich klackerte mit dem Koks-Röhrchen auf der Tischplatte herum. »Nee, Ingrid kommt nicht.«
    »Die meldet sich gar nicht mehr bei dir, oder?«
    In dem Moment klingelte es an der Tür. Augenblicklich spürte ich meinen Herzschlag.
    »Erwartest du noch jemanden?«, fragte Merle.
    »Eigentlich nicht«, stammelte ich, zögerte erst und schlurfte zur Tür. Einen Moment lang starrte ich den Hörer der Gegensprechanlage an, bevor ich in der Hoffnung abhob, es wäre ein Klingelstreich gewesen.
    |224| »Ja?«, fragte ich. Dann hörte ich Flavios Stimme: »Moin!«
    Einen Augenblick überlegte ich, einfach wieder aufzuhängen und zu behaupten, es wäre jemand gewesen, der etwas für die Nachbarn in den Briefkasten werfen wollte, aber Flavio hätte sich nicht so leicht abwimmeln lassen.
    »Rick?«, fragte er. »Kannste vielleicht mal aufmachen?«
    »Kekse sind fertig«, säuselte Merle im Ton einer Kindergärtnerin und zog das Blech aus dem Ofen.
    Flavio hatte sie gehört und fragte: »Haste Besuch?«
    »Nee«, sagte ich in die Sprechmuschel und schwieg anschließend.
    »Rick? Machste jetzt mal auf, Alter? Störe auch nicht lange. Muss dir nur mal was zeigen.«
    Langsam drückte ich den Türöffner und sah zu Merle herüber, die gerade das Backblech auf dem Küchentisch abgestellt hatte.
    »Glühwein ist auch schon heiß«, sagte sie. »Holst du Tassen?«
    Unruhig blickte ich sie an.
    »Was denn?«, wollte sie wissen.
    »Merle«, sagte ich tonlos und hörte mich dann weiterstottern. »Wenn … pass auf, wir kennen uns aus dem Heim, ja?«
    Merle verschränkte die Arme vor Brust. »Klar kennen wir uns aus dem Heim.«
    »Ich bin mit dreizehn ins Heim gekommen«, sagte ich. »Meine Eltern sind tot. Meine Großeltern auch. Und ich habe keine Geschwister.«
    »Was?«
    »Ich … oder du bist meine Tante. Nee. Genau! Du bist meine Cousine, okay? Ich erkläre das nachher, ja?«
    Schon in dem Moment ärgerte ich mich, dass ich nicht einfach meine Klappe gehalten hatte.
    »Rick, was ist gerade los hier?«, fragte Merle.
    »Cousine, okay?«
    |225| »Wer kommt denn gerade?«
    »Flavio.«
    »Oh«, machte Merle, »dann lerne

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