Nachtleben
ich den ja doch endlich mal kennen. Dachte schon, den kriege ich nie mehr zu sehen. Das ist doch toll.«
»Ja. Nein, das ist … ist alles etwas anders. Nicht über meine Familie reden, okay?«, keuchte ich.
Merle bohrte ihre Hände in die Hosentaschen und sah mich prüfend an. Flavio bollerte gegen die Tür.
»Hier ist die Spanische Inquisition. Aufmachen! Wir foltern Sie sowieso!«, bölkte er, und hinter Merles Verwirrung war ein verhaltenes Schmunzeln zu erahnen.
»Rick, ich verstehe gar nicht, was hier gerade passiert.«
»Sag am besten gar nichts, ja?«
Damit öffnete ich die Tür, und Flavio stand mit einem breiten Grinsen vor mir, schnupperte und fragte: »Backst du oder was?«
»Ja«, sagte ich. »Ja, wir backen gerade.«
»’n Abend«, sagte Flavio überrascht, als er Merle bemerkte. Skeptisch streckte er ihr die Hand entgegen und musterte sie. »Flavio heiße ich. Arbeitest du nicht an der Theke in diesem einen Technoschuppen?«
»Merle. ’n Abend. Nee«, antwortete sie und schob sich einen Keks in den Mund.
»Echt nicht?«, hakte Flavio nach. Merle deutete auf ihren vollen Mund und antwortete nicht, wobei sie mir einen strengen Blick zuwarf.
»Ich hätte schwören können«, sagte Flavio. »Egal. Oh! Kriege ich auch einen Glühwein?«
Obwohl ich wollte, dass er möglichst schnell weiterzog, holte ich drei Tassen aus dem Schrank und schenkte uns ein. Flavio fläzte sich auf meinen Stuhl, sodass für mich kein Sitzplatz übrig blieb, und Merle nahm sich den nächsten Keks. Nachdem ich den beiden Glühwein serviert hatte, blieb ich an die Spühle gelehnt stehen. Flavio besah sich den Tisch mit den |226| Keksen, dem Geschenkpapier und den übrigen Sachen. Dann bemerkte er die Musik.
»Johnny Cash«, sagte er. »Ich nehme mir auch mal einen Keks, ja?«
»Klar«, antwortete ich. Weil ich nichts zu sagen wusste, trank ich einen Schluck des kochend heißen Glühweins. Ohne aufgekaut zu haben, langte Merle nach dem nächsten Keks, worauf Flavio anerkennend nickte.
»Du kannst aber gut was ab«, sagte er, und Merle fragte mit vollem Mund zurück: »Wieso?«
»Habt ihr da nicht so viel reingehauen?«
Merle sah erst mich und dann Flavio an, der sich gerade den Keks in den Mund schieben wollte. »Das sind keine Space-Cookies«, sagte ich. »Das sind einfach nur Kekse.«
»Ja, klar«, lachte Flavio.
»Da ist nichts drin«, sagte ich.
Flavio roch am Keks und legte ihn beiseite, als sei er schlecht. »Wieso backst du denn Kekse ohne Zeug drin, Alter?«
Als ich nicht antwortete, sah er Merle noch einmal genauer an, dann wieder das Geschenkpapier.
Als ich die Stille nicht mehr aushielt, sagte ich: »Merle ist eine entfernte Cousine. Wollte ich dir noch von erzählen.« Merle vergaß zu kauen und sah zu mir auf. »Ihre Mutter ist vor einer Weile gestorben. Krebs. Und sie musste sich um den Nachlass kümmern und hat da wohl irgendwie meinen Namen gefunden. Sie macht jetzt halt so ein bisschen Ahnenforschung. Und da dachten wir, wir treffen uns einfach mal.«
»Ach«, machte Flavio. »Ich dachte, die wären alle tot.«
In dem Moment klingelte mein Handy. Es lag neben Flavio auf der Fensterbank, und er gab es mir, nicht ohne auf das Display zu schauen.
»Irgendein Franz«, sagte er.
»Der, von dem du erzählt hast?«, fragte Merle. Als Flavio |227| überrascht zu ihr hinübergaffte, ergänzte sie schnell: »Gerade eben. Von dem du eben erzählt hast?«
»Ja, genau«, sagte ich. »Genau der.«
»Wer ist das?«, wollte Flavio wissen.
»Nur so ein Typ. Hat mich gefragt, ob ich nicht in so einem Laden von ihm an der Tür aushelfen will.«
»Cool«, sagte Flavio. »Was denn für’n Laden? Lass uns das mal machen. Ich muss echt mal wieder woanders hin.«
»Ja, den ich rufe später mal zurück.«
»Mach das aber auch. Ey, wenn der dir extra hinerhertelefoniert wegen so was, ist das doch richtig geil, Alter.«
Ich legte das Handy beiseite, und es klingelte noch einige Male, bevor Franz es schließlich aufgab. Ich nahm einen Schluck Glühwein. »Weshalb bist du denn hier?«, fragte ich und konnte mir einen gereizten Unterton kaum verkneifen.
»Ach so, genau.« Flavio erhob sich, zog seinen Pullover aus und warf ihn auf den Tisch über das Geschenkpapier.
»Das ist jetzt, glaube ich, gerade ein bisschen peinlich«, sagte er, an Merle gerichtet. »Ich habe eine neue Tätowierung.«
»Mach ruhig«, sagte sie.
Flavio zog das T-Shirt hoch und präsentierte mir seinen Rücken. Vorsichtig zog ich die
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