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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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eigentlich egal und bedeutet nichts«, sagte ich, und mein Körper war ganz Herzschlag. »Weil er gelernt hat, dass sowieso immer alles und jeder früher oder später wieder verschwindet. Also warum sollte er sich an etwas festhalten, von dem er weiß, dass es irgendwann wieder weg sein wird? Selbst wenn er versucht, es zu halten.«
    Mit einem Keuchen presste ich meine Stirn, so fest es ging, gegen das Glas und kniff die Augen zu. Hinter den Mustern, die vorbeiflackerten, schienen irgendwo in der Dunkelheit Bruchstücke meines Lebens aufzutauchen. Eine undeutliche Erinnerung nach der anderen. Schnappschüsse meines Lebens. Wie zum Trocknen aufgehängte Fotos in der Dunkelkammer. Scheinbar wahllos aneinandergereiht, aber doch alle auf demselben Film belichtet.
    »Ich bin die Frau auf dem Beifahrersitz«, sagte Ingrid kaum hörbar und knabberte an ihrer Unterlippe. »Sie versucht schon ihr ganzes Leben lang herauszufinden, was sie tun muss, damit alle glücklich sind, weil sie glaubt, dann wäre sie auch mal dran mit Glücklichsein. Aber ganz egal, was sie macht und was sie alles bekommt, es endet immer damit, dass irgendetwas fehlt. Und alles, was sie will, ist, dass es in Ordnung ist, wie sie ist und wer sie ist. Und dass sie nicht immer denkt, dass es an ihr liegt, wenn die Welt nicht in Ordnung |236| ist.« Ingrid schniefte. »Und dass die schönen Sachen auch mal ein bisschen länger dauern.«
    Wir schwiegen.
    »Und was will der Mann?«, fragte sie.
    »Irgendwas Ehrliches, das bleibt«, antwortete ich.
    »Und was würde er der Frau Ehrliches sagen, wenn sie ihm wirklich zuhören würde?«
    Die Zunge klebte mir am Gaumen.
    »Dass er gelernt hat, dass sich manche Menschen und Beziehungen einfach nicht vergessen lassen, selbst wenn man es versucht. Die bleiben einfach bestehen, ob man will oder nicht. Völlig egal, ob der Mensch, um den es dabei geht, davon weiß oder nicht. Manchmal vergisst man diesen Menschen vielleicht sogar für eine Weile, aber dann sieht man irgendeine Belanglosigkeit im Vorbeigehen, ein Kind in Kleid und Sandalen oder was auch immer, und es ist alles wieder da. Und es fühlt sich an, als steckt man noch immer in diesem einen Moment oder diesem einen Tag fest. Ohne zu wissen, wie man herauskommen könnte.«
    An der Theke schepperte ein Tablett zu Boden, aber Ingrid und ich sahen uns nicht um.
    »Ja«, sagte Ingrid. »So geht’s der Frau auch. Und sie hat keine Lust mehr, sich immer wieder dazu zu zwingen, alles zu vergessen. Sie möchte sich jetzt endlich mal erinnern dürfen.«
    Wir sahen uns an.
    Der Mann startete den Wagen und setzte zurück. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über das Gesicht der Frau. Vielleicht waren es auch nur Reflexionen auf der Scheibe.

|237| Juni 2004
    »Das war nicht mal ein Gramm«, sagte Flavio und kaute an seinem Daumennagel.
    »Wegen dem bisschen Speed machen die doch nichts«, sagte ich.
    Flavio schüttelte den Kopf. »Personenkontrolle, schön und gut, aber warum denn bei uns, Alter? Hier gibt’s doch genug Sachen zu tun. Die sollen mal die ganzen Scheißausländer auf dem Kiez härter rannehmen«, sagte er und schickte einen italienischen Fluch hinterher.
    »Erst mal abwarten, was die sagen.«
    »Wie lange wollen die Bullen uns jetzt noch hier sitzen lassen, Alter?«
    Die Plastikschale des Stuhls, auf dem ich saß, knatschte, als ich meine Beine übereinanderschlug. Gelangweilt überflog ich einen Flyer:
Karriere bei der Polizei
. Zwei junge Leute mit perfekten Zähnen lachten mich an, in der einen Hand eine Polizeikelle, in der anderen einen Schlagstock. Ich legte die Broschüre beiseite.
    »Wenn die mich zu einem Drogenscreening schicken, bin ich hundertpro den Lappen los«, sagte Flavio.
    »Du brauchst das Auto doch sowieso nicht wirklich.«
    »Ey, darum geht’s doch gar nicht«, protestierte er. »Wenn ich wegen so ’ner Drogengeschichte den Führerschein verliere, kriege ich den nur mit einem Idiotentest zurück. Was das kostet! Außerdem will ich ein Auto haben. Stell dir mal vor, jetzt ist demnächst Sommer, und wir können nicht sinnlos durch die Stadt gurken.«
    In dem Moment schlurfte eine Polizistin mit schlaffen |238| Schultern und Puttchen-Bramme-Visage an der Tür des Zimmers vorbei. Unter ihrer Mütze quoll eine aschblonde Dauerwelle hervor, und ihr Hemd war aus der Hose gerutscht. Als sie uns bemerkte, riss sie die Augen auf. Sofort brachte sie sich in Respektspersonen-Haltung und rückte sich die Mütze zurecht, als schraube

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