Nachtleben
sie einen Deckel auf ein Marmeladenglas. Aber gerade, als sie sich uns zuwenden wollte, wurde sie von einem Kollegen am Arm gepackt und weitergeschoben. Mit abfälligem Gesichtsausdruck zog Flavio den Rotz in der Nase hoch, schnarchte ihn in den Mund und bemerkte erst dann, dass er nicht auf den Boden des Polizeireviers spucken konnte. Er schluckte angestrengt.
Kurz darauf hörte ich Gepolter im Flur, das Rauschen von Funkgeräten und hektische Stimmen. Dann stürmten einige Polizisten am Zimmer vorbei, unter ihnen auch die Polizistin, die gerade noch zu uns reingeschaut hatte.
»Kollegen kümmern sich gleich um Sie«, sagte sie vorbeihoppelnd und trampelte die Treppen zum Ausgang herunter.
Wir lauschten. Stille. Nur aus einem der gegenüberliegenden Räume drang leise Musik.
»Von wem ist das Lied?«, fragte Flavio. Es war kein Gesang zu hören, und obwohl mir die Melodie bekannt vorkam, fiel mir der Titel nicht ein.
»Das ist doch dieser Kleine, oder?«, fragte Flavio.
»Welcher?«
»Der Hässliche mit der hübschen Tochter.«
Der Gesang setzte ein.
»Chris de Burgh«, sagte ich.
»Ja! Genau. Chris de Burgh.«
»Pia meinte mal«, sagte ich, »dass der zu diesen Leuten gehört, die nur noch in Deutschland Platten verkaufen.«
»Wer ist denn Pia?«, wollte Flavio wissen.
Ich sah ihn überrascht an. »Na, Pia. Meine Exfreundin.«
Flavio zog die Augenbrauen zusammen. »Was denn für eine Exfreundin? Wann soll das denn gewesen sein? Bevor |239| wir uns kannten?«, hakte er nach. »Ich dachte, ich hätte dir Spätzünder damals die erste Braut klargemacht. Diese Tina? Aus dem Altenheim? Ohne mich wärst du doch heute noch Jungfrau.«
»Ja. Nee. Also: Schon«, stammelte ich. »Aber klar kennst du Pia.«
»Wann hast du denn, seit wir uns kennen, mal eine richtige Freundin gehabt? Das wüsste ich aber.«
»Vor acht, neun Jahren war das. Die kleine Blonde, die immer so komisch mit dem Arsch gewackelt hat.«
Einen Moment lang starrte Flavio eine mit Notizen und Aushängen übersäte Pinwand an. »Pffff«, machte er schließlich mit einer abfälligen Handbewegung. »Ach so! Die, wegen der du mit dem ganzen Gelese angefangen hast, Frollein Von-und-Zu.« Ich verstand nicht. »Na, das war doch so ’ne ganz Durchlauchte, oder nicht? Reiche Eltern und so. Die kleine Durchgeknallte, die über dich immer Pillen und Speed gekauft hat.«
»Na ja«, druckste ich herum, »also, ich habe ihr ab und zu Pillen mitgebracht, wenn ich bei Pascal war.«
»Mit der bist du doch aber nicht zusammen gewesen. Ihr habt euch eine Weile ab und zu gesehen und seid miteinander ins Bett gegangen, aber das war doch keine Beziehung.«
»Das ging über ein Jahr.«
»Mit dieser Tonia vögelst du jetzt schon regelmäßig seit wenigstens zwei Jahren, oder nicht?«, fragte Flavio.
»Aber mit der koche ich zum Beispiel nicht.«
Gelangweilt verzog Flavio den Mund.
»Außerdem ist Tonia nicht die Einzige und weiß es auch.«
»Das hat doch mit Beziehung nichts zu tun, was du da immer abziehst«, sagte Flavio. »Sobald die mehr wollen, machst du doch sofort den Sittich. War das damals anders?«
Ich zuckte mit den Schultern und hoffte auf einmal, dass die Bullen endlich wiederkämen.
»Erinnerst du dich noch an Ralf?«, fragte Flavio.
|240| »Welchen?«
»Den mit dieser bescheuerten Schlangentätowierung auf dem Unterarm und der Fresse voller Piercings. Der, der schon Piercings hatte, Jahre bevor das angesagt war.«
»Blech-Ralle?«
»Ja!« Flavio lachte. »Genau. Blech-Ralle.«
»Was ist mit dem?«
»Der hatte doch auch was mit dieser Pia am Laufen«, sagte Flavio, »und ich glaube, der ist wegen der Alten sogar nach Berlin gezogen, als sie da zum Studieren hin ist. Den habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
In dem Moment spürte ich meinen Herzschlag im Hals, mein Mund war trocken, und mein Magen zog sich zusammen. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Woher weißt du denn, dass Pia nach Berlin gegangen ist?«, wollte ich wissen.
Flavio zuckte mit den Schultern. »Hat man halt so mitbekommen. Damals hat uns Tommaso doch regelmäßig irgendwelchen Kiezläden ausgeliehen. In einigen war die Kleine halt bekannt. Die war doch ständig unterwegs und hat die Security vollgequatscht.«
Auf einmal fühlte ich mich wie eine Katze, der man einen Böller an den Schwanz geknotet hat, und stand auf, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen. Ich schaute aus dem Zimmer. Als niemand zu sehen war, ging ich über den Flur und
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