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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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zur Kenntnis nehmend. Großmütig die helfenden Hände ausstreckend. Wir sahen uns an. Das fettige Essen rumorte in meinem Magen, und der Orangensaft brannte in meinem Hals. Ingrid nahm einen Schluck Kaffee und stellte den Becher geräuschlos ab. Ich wollte nur, dass sie begriff, dass ich froh darüber war, mit ihr in dieser schäbigen Raststätte am Arsch der Welt zu sitzen, und dass das vorerst völlig ausreichte. Aber ich bekam das Maul nicht auf. Was ich am wenigsten wollte, war ihr Mitleid. Ich linste zu dem Kerl im Blaumann. Schließlich blinzelte Ingrid wie in Zeitlupe, griff nach meiner Hand und drückte sie, als wolle sie mir zu einer überstandenen Krankheit und meiner Tapferkeit gratulieren. Vor meinen Augen flackerte es. Ich war drauf und dran, meine Hand wegzureißen, aber dann spürte ich ihre Finger auf meiner Haut. Warm vom Kaffeebecher. Als sinke ihre Hand in meine ein. Es kribbelte. Aber gerade als ich Luft geholt hatte und ansetzen wollte, etwas zu sagen, was auch immer, flüsterte sie mit sanfter Stimme: »Richard, sag mir doch bitte ganz ehrlich, was du mir sagen willst. Egal, wie bitter es ist. Nimm da keine Rücksicht auf meine Gefühle.«
    Sosehr ich meine Hand auch auf der klebrigen Tischplatte liegen lassen und Ingrids Finger spüren wollte, zog ich sie doch weg und rieb mir durchs Gesicht. Dann presste ich die Luft, die ich eigentlich für diesen einen richtigen Satz eingeatmet hatte, der mir nicht einfallen wollte, durch die Nase wieder aus. Ingrids hartnäckiger Gutmütigkeit wusste ich nichts entgegenzusetzen.
    »Warst du denn glücklich?«, fragte sie.
    »Na, wer ist denn schon glücklich?!«, platzte es aus mir heraus, und der Kerl im Blaumann glotzte zu uns herüber. »Muss ich hier jetzt rumheulen und dir Vorwürfe machen, die du dann gnädig abnicken kannst, damit es dir anschließend besser geht?« Ich drückte meinen Rücken gegen die Lehne der Bank, bis ich meine Wirbel spüren konnte.
    |234| »Dann eben nicht«, zischte Ingrid und rieb sich die Augen, als wolle sie mich von ihrer Netzhaut rubbeln. Ich steckte mir die weichgeknetete Kippe an, und als mir der Benzingeruch des Feuerzeugs in die Nase stieg, sog ich ihn tief ein. In dem Moment öffnete sich die Glastür, neben der wir saßen, und in der Scheibe bemerkte ich mein fahles Spiegelbild. Ich bemerkte einen Kette rauchenden Einsneunzig-Kerl mit gegelten Haaren und Backenbart, in Bomberjacke, engen Jeans und Cowboystiefeln, aus dessen Ärmeln und Hemdkragen Tätowierungen ragten.
    Das Düdeln des Spielautomaten war wie das Klingeln eines Weckers.
    Mit eingefallenen Schultern starrte Ingrid auf den Parkplatz. Inzwischen war der Mann in den Wagen gestiegen und saß schweigend neben seiner Frau, während sich die Kinder auf dem Rücksitz mit Stofftieren prügelten. Ingrid ließ ihren Oberkörper zur Seite kippen und stieß mit der Stirn gegen die Scheibe.
    Sofort war ich wieder acht Jahre alt, und wir hockten in unserem schmuddeligen Kinderzimmer auf dem Fensterbrett und blickten runter auf die Kreuzung. Wie ferngesteuert drückte ich ebenfalls meinen Kopf gegen das Glas und hörte mich fragen: »Wer bist du?«
     
    Ein Lastwagen dröhnte über den Parkplatz, und ich spürte das Vibrieren des Bodens in der Scheibe. Obwohl Ingrid ihre Lippen fest aufeinanderpresste, konnte ich sehen, wie sie zitterten. Hörbar atmete sie ein und aus, und die Scheibe beschlug. Dann wandte sie den Kopf in meine Richtung, als sei sie nicht sicher, wen sie zu sehen bekommen würde. Auf einmal waren ihre Pupillen wieder ganz die versponnenen blauen Wollknäuel von früher.
    Ich schluckte.
    »Ich bin der Mann auf dem Fahrersitz«, hörte ich mich sagen. »Plötzlich sitzt er in diesem Auto und weiß nicht wirklich, |235| wie er dort hingekommen ist, wo er gerade ist, weil ihm sein ganzes Leben eigentlich immer nur passiert ist. Weil er nicht eine einzige wirkliche Entscheidung getroffen hat, sondern immer nur gemacht hat, was sich eben ergeben hat. Auf einmal ist er da, wo er ist, und muss zusehen, wie er zurechtkommt. Und selbst von den wenigen Menschen, die ihm irgendwie nah sind, weiß niemand, wer er wirklich ist. Manchmal wünscht er sich, dass alles anders gekommen wäre, weiß aber auch nicht, wie. Irgendwie ist auch alles nicht weiter schlimm. Ist schon okay. Aber im Hinterkopf hat er diese Ahnung, dass es anders sein könnte, und die Befürchtung, dass es dann vielleicht besser wäre. Irgendwie wärmer. Und alles, was er hat, ist ihm

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