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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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linste in das Büro, aus dem die Musik drang. Es war leer.
    »Hier ist überhaupt niemand«, sagte ich leise.
    »Sicher?«
    »Auf jeden Fall.«
    Flavio erhob sich, warf ebenfalls einen Blick in den Raum und stakste dann wie auf Storchenbeinen den Flur hinauf, um in eine weitere offen stehende Tür zu schielen.
    »Hier ist auch keiner«, sagte er.
    »Die können doch nicht alle weg sein«, raunte ich ungläubig.
    |241| Einen Moment lang sahen wir uns unentschlossen an.
    »Die einen weg, die anderen gerade auf dem Klo?«, flüsterte Flavio.
    »Haben die deinen Ausweis einbehalten?«, wollte ich wissen, worauf Flavio ihn aus seiner Jackentasche zog und hochhielt wie eine Rote Karte.
    »Die haben da nur ganz kurz draufgeguckt«, sagte er. »Meinst du, die haben sich meinen Namen gemerkt?«

|242| Mai 2005
    »Bist du sicher, dass du wegwillst?«, fragte ich.
    »Ich glaube schon«, antwortete Merle. »Hier geht’s irgendwie nicht weiter. Ich bin jetzt Mitte vierzig. Meine Dreißiger sind so schnell vorbeigegangen, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass meine Zwanziger schon durch waren.«
    Ich schmunzelte und nahm einen Schluck von meiner Cola-Whiskey-Mischung, die ich aus der Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite geschmuggelt hatte.
    Von der Werft wehten Schweißgeräusche herüber. Touristen spazierten vorbei und bestaunten Segelboote, die für einige Tage in der Stadt waren. Ich sah über das Wasser zu den beleuchteten Kränen, von wo in unregelmäßigen Abständen metallisches Scheppern zu hören war.
    Merle legte den Kopf in den Nacken und sah in den sternenklaren Himmel.
    »Und liebst du den Typen, oder ist der nur spannend, weil er Ami ist?«, fragte ich.
    »Der trägt mich auf Händen.«
    »Und was machst du dann drüben?«
    »Der ist Fotograf«, sagte sie, »und ich kann bei ihm im Büro arbeiten und Termine machen und Archiv und so.«
    »Wollt ihr heiraten?«
    »Damit ich eine Greencard bekomme und arbeiten kann, ja.«
    »Ihr heiratet, damit du arbeiten kannst?«, hakte ich nach, aber Merle zuckte nur mit den Schultern.
    Ein Boot tuckerte vorbei. Neben uns hopste eine Möwe auf die Mauer und sah uns schräg an, aber anscheinend waren wir |243| uninteressant. Im nächsten Augenblick schüttelte sie sich und steckte den Kopf ins Gefieder.
    »Ich muss hier raus«, sagte Merle.
    »Und sehen wir uns noch mal wieder, oder bist du dann halt weg?«
    »Bestimmt sehen wir uns wieder.«
    Eine Weile schwiegen wir, und ich roch Merles Parfum. Mit einem Mal spürte ich eine leichte Traurigkeit in mir, als wenn einem in der letzten Augustwoche bewusst wird, dass nach einem verregneten Sommer unweigerlich der Herbst bevorsteht.
    »Pass auf«, sagte Merle schließlich. »Wir machen einen Termin. Ich habe gestern was gelesen. Am Freitag, dem dreizehnten April zweitausendneununzwanzig, zieht ein Asteroid dicht an der Erde vorbei …«
    »Freitag, den dreizehnten?«, unterbrach ich sie. »Da gibt’s doch eine Massenpanik.«
    »Den Asteroiden haben die
Apophis
genannt«, blieb Merle beim Thema. »Das ist irgendein griechischer Gott der Unterwelt. Und der Asteroid schlägt zwar nicht ein, aber er wird durch die Gravitation anschließend seine Bahn ändern. Und die Wissenschaftler können jetzt noch nicht ausschließen, dass er sieben Jahre später nicht doch einschlägt.«
    »Dann mache ich mich bis dahin als Veranstalter selbstständig«, sagte ich, hob die Hände in die Luft und machte eine Bewegung, als würde ich ein Banner entrollen: »Countdown-zum-Weltuntergang-Partys«, sagte ich und bemerkte, dass ich Merle gar nicht wirklich zugehört hatte. »Und was war jetzt deine Idee?«
    »Der Termin«, sagte sie. »Wir sagen, egal, was passiert, wir treffen uns auf jeden Fall am Freitag, dem dreizehnten April zweitausendneununzwanzig, um uns den Asteroiden anzugucken.«
    Darauf nahm sie einen Schluck von ihrem Getränk, lächelte mich an und war offenbar von ihrer Idee überzeugt, aber ich |244| fing an zu rechnen. »Merle, dann bist du um die siebzig«, sagte ich.
    Nach einem kurzen Schweigen kicherte sie. »Na, dann kann der von mir aus auch einschlagen.«
    Auf einmal ließ mich der Gedanke nicht mehr los, dass wir uns nach ihrer Abreise in ein paar Monaten tatsächlich nicht wiedersehen würden. In meinem Whiskey-Cola spiegelten sich die Sterne.
    »Hast du damals im Heim eigentlich was mit Phillip gehabt?«, hörte ich mich fragen.
    »Da warte ich schon seit wir uns wiedergetroffen haben drauf, dass du das fragst«,

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