Nachtleben
antwortete Merle ruhig. »Was denkst du denn?«
»Konnte ich mir nie vorstellen«, sagte ich und fügte etwas leiser hinzu: »Jedenfalls nicht mit Phillip.«
Merle schaukelte zu mir herüber und stieß mich mit der Schulter an. »Ich hatte was mit Werner.«
»Mit Werner?«, fragte ich. »Der war doch verheiratet, oder nicht?«
»Ja, und hatte zwei Kinder«, ergänzte Merle. »Das ging auch nicht lange mit ihm. Ein paar Monate. Irgendwann haben wir uns zerstritten, und ich habe ihm gedroht, seiner Frau von uns zu erzählen.«
»Hm«, machte ich, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Mir Merle, die zu dem Zeitpunkt Mitte zwanzig war, mit dem siebzehnjährigen Phillip vorzustellen war die eine Sache, aber Merle und Werner, der damals Anfang fünfzig war, eine ganz andere.
»Ja, war blöd von mir, ihm zu drohen«, sagte sie, »aber da war ich halt jung. Mann, war ich jung. Werner hat sofort Panik bekommen, wollte mich loswerden, und er hatte noch was gut bei Phillip. Wieder einer von seinen krummen Deals, von denen niemand was wissen durfte. Als die Sache mit mir kam, war Phillip an der Reihe, sich zu revanchieren. Da hat er eben behauptet, ich hätte was mit ihm gehabt.«
|245| »Wie? Und warum hast du das nicht sofort alles gesagt?«, fragte ich und stellte mein Glas auf der Mauer ab. Mit einem Mal war ich so aufgeregt, als hätten wir noch die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. »So blöd wie Phillip war, hätte man das doch ganz einfach rausfinden und richtigstellen können«, sagte ich. »Der Vollidiot hätte sich doch sofort verplappert.«
»Ich wollte sowieso raus aus dem Job. Da hat mich niemand ernst genommen. Das war jeden Tag der gleiche Kampf, sich gegen die Kollegen und die Bewohner durchzusetzen. Irgendwie habe ich dann gedacht, wozu soll ich Werner alles versauen? Wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, wäre für ihn alles den Bach runtergegangen, Phillip hätte Ärger bekommen, und meinen Ruf hätte ich trotzdem weggehabt. Da habe ich halt nichts gesagt. Ich fand das nicht so wichtig, dass die Wahrheit rauskommt. Da findet das Universum schon seine Wege, um das geradezurücken.«
»In dem Universum fliegen Asteroiden rum, die vielleicht auf die Erde knallen«, sagte ich und griff mir wieder mein Glas. »Was ist das denn aber für ein mieses Geschäft, das Werner mit Phillip gemacht hat?«
»Na, in etwa so wie wir beide mit Baader.« Merle warf mir einen schelmischen Blick zu. »Das hätte ich auch nicht machen sollen.«
»Warum hast du es überhaupt gemacht?«
»Weil du der erste von den Jungs gewesen bist, der von sich aus auf mich zugekommen ist und mir vertraut hat«, sagte sie. »Außerdem fand ich dich damals schon total süß.«
Einen Moment lang sahen wir uns an, als würden wir etwas ineinander suchen, ohne zu wissen, was genau es war. Etwas Neues vielleicht. Einen Winkel, den wir noch nicht kannten, oder eine Antwort auf eine ungestellte Frage. Schließlich blinzelte Merle und starrte ins Hafenbecken.
»Hättest du die Sachen nicht in sein Kopfkissen geschmuggelt und das dann alles so gedreht, würden wir jetzt wahrscheinlich gar nicht hier sitzen«, sagte ich.
|246| Merle klickerte mit den Fingernägeln gegen ihr Glas und rückte näher an mich heran. »Das wäre schade.«
»Hm«, summte ich.
»Nichts, was passieren wird, ändert etwas an dem, was bis hierhin gewesen ist, oder?«, fragte Merle, ohne mich anzusehen. Ich rutschte zu ihr hinüber, bis sich unsere Arme berührten. Es kribbelte. Wir starrten in unsere Gläser. Die Sterne schaukelten auf der Oberfläche unserer Getränke, und wir tranken sie mit einem Schluck.
|247| Dezember 2007
Am Nachmittag klarte der Himmel auf, und die Sonne stach mit einer eisigen Klinge ins Auge. Die Pfützen auf den Feldern waren dünn vereist, als wären sie mit Klarsichtfolie überzogen, Raureif klebte an den Büschen wie Filz. Auf der Windschutzscheibe hingen Tropfen, brachen das Licht und glitzerten in der tiefen Sonne.
Ingrids Schrottkiste klapperte an allen Ecken und Enden. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber auf jeden Fall war ich noch nie so weit von zu Hause weg gewesen. An das Schaukeln des Wagens bei der kleinsten Unebenheit der Straße hatte ich mich im Laufe der Stunden gewöhnt, doch der wenige Platz für meine Beine machte mir zu schaffen. Meine Knie fühlten sich an, als habe jemand eine Schraube hineingezwungen und mehrfach überdreht. Durch die Türen drang ununterbrochen Wind ins Wageninnere. Wir hatten die
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