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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Wahl, entweder in der trockenen Luft der Heizung zu sitzen, die uns die Haut ausdörrte, oder in unseren Jacken zu schwitzen.
    Ingrid und ich unterhielten uns inzwischen zwar miteinander, aber sobald sich das Gespräch in Richtung Mutter oder früher bewegte, wurden wir einsilbig und wechselten das Thema. Wir kauten Kaugummi, und aus dem Radio düdelten die üblichen Popsongs, die man mit jedem Mal Mitsummen mehr hasste.
    »Freundin?«, fragte Ingrid irgendwann knapp. Als ich nicht reagierte, schob sie hinterher: »Hast du eine Freundin?«
    Ich schüttelte den Kopf und starrte Ingrids Finger an. »Zur Zeit nicht.« Nach einem Moment des Zögerns ergänzte ich: »Da bin ich irgendwie nicht so der Typ für.«
    |248| »Kenne ich«, sagte Ingrid. Dann zog sich ein Grinsen über ihr Gesicht. »Von meinen Freundinnen haben in letzter Zeit ganz viele Kinder bekommen oder wohnen mit ihren Typen zusammen, aber mal ehrlich: Manchmal, wenn ich denen zuhöre, denke ich, dieser Spruch ›Geteiltes Leid ist halbes Leid‹ ist der totale Schwachsinn. Das verdoppelt sich doch eher.« Ingrid pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schob hinterher: »Brauche ich nicht.«
    Ich musste lachen.
    Ingrid lehnte sich breitbeinig in ihrem Sitz zurück. Schon seit einer Weile lenkte sie nur noch mit ihren Daumen, die sie nebeneinander unten ins Lenkrad eingehakt hatte. »Und hast du vor der Türstehersache mal eine Ausbildung gemacht?«, wollte sie wissen.
    »Ich bin Tischler«, antwortete ich und konnte mich nicht daran erinnern, wann ich diesen Satz das letzte Mal gesagt hatte. Ich sah meine Handflächen an. Während der Lehre waren sie rau und voller Schwielen gewesen, ständig hatte ich mir Splitter eingerissen, und sie hatten nach Terpentin gestunken.
    »Wieso wolltest du Tischler werden?«
    »War mir egal«, sagte ich. »Das war die erste Zusage, die ich für eine Lehrstelle bekommen habe, und es war ein Job in der Stadt. So bin ich aus dem Heim rausgekommen, weil mir das Amt die Wohnung bezahlt hat.«
    »Und hat dir das Spaß gemacht?«
    »Irgendwo musste die Kohle ja herkommen.«
    »War nicht gut?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Das war ein ganz kleiner Betrieb mit zwei Gesellen, mir und einem cholerischen Meister. Die Gesellen haben sich ständig mit ihm angelegt. Wegen jedem Mist. Das war halt so ein Typ, der lieber richtig hochwertige Möbel bauen wollte, anstatt Reparaturaufträge anzunehmen. Die Möbel sahen auch echt super aus, waren nur viel zu teuer. Wir hatten überhaupt keine richtige Ausstellungsfläche |249| dafür, sodass das Zeug zwischen den Maschinen und dem ganzen Schrott in der Werkstatt rumstand. Alle paar Monate hat er einen Tag der offenen Tür veranstaltet, um Leute ranzuholen, wo er dann umsonst Bratwürste und Bier rausgehauen hat. Haben sich alle vollgefressen, die Möbel bestaunt und sind besoffen wieder abgehauen, ohne was gekauft zu haben. Jedes Mal die gleichen Nasen. Der Laden lief wirklich schlecht, und den einen Winter war so wenig los, da haben wir Vogelhäuschen gebastelt und die dann bei einem Weihnachtsbasar verscherbelt, damit wenigstens ein bisschen Geld reinkommt. Das war ganz schön armselig. Außerdem …«, ich stockte. Seit Jahren hatte ich nicht mehr an den Meister und sein Rumgemotze gedacht, aber in dem Moment hatte ich wieder sein kehliges Rumgenörgle im Ohr. Im Laufe eines Tages waren seine Stimmungen oft um hundertachtzig Grad gekippt. Hatte er frühmorgens noch gefragt, wie viele Stücke Zucker man in den Kaffee wollte, den er einem aus der Küche in die Werkstatt brachte, hatte er schon mittags nur noch aus seinem Büro gebölkt, man sollte gefälligst die Türen nicht knallen oder die Latten nicht bollerig in die Ecken schmeißen, um schließlich kurz vor Feierabend einen Ausraster zu bekommen, weil man nach dem Pinkeln die Klobrille nicht wieder runtergeklappt hatte. Wobei ihn das nur störte, weil gelegentlich seine Frau zu Besuch kam und ihm dafür die Hölle heißmachte. Die beiden Gesellen waren durchgehend genervt, aber ich fand es ganz in Ordnung so. Je cholerischer sich der Meister aufführte, desto kleinlauter war er, wenn er sich am nächsten Tag für sein Austicken entschuldigte. Ab und an ließ er als Wiedergutmachung sogar eine Flasche Wein rüberwachsen. Letzten Endes war jedes Mal ich der Gewinner, ganz egal, wie sehr er mich zusammengefaltet hatte.
    »Und dann hast du irgendwann gekündigt?«, fragte Ingrid.
    »Nee«, sagte ich. »Erst mal habe ich mein

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