Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtmahl im Paradies

Nachtmahl im Paradies

Titel: Nachtmahl im Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bennett Ben
Vom Netzwerk:
besetzt. An einem saß ein Paar um die siebzig, an dem anderen die Eltern der beiden. Jedenfalls legte ihr Alter diese Vermutung nahe. Genau wie er selbst waren auch seine Gäste nicht gerade jünger geworden, trotz der diversen kleineren kosmetischen Innovationen, die das Paris erlebt hatte. Jacques’ Blick fiel auf die Kunstblumen an den Tischen – eine der Neuerungen, die er in den vergangenen Jahren eingeführt hatte. Sie sahen aus, als müssten sie dringend entstaubt werden.
    Elli hatte jeden Tisch tagtäglich mit frischen Blumen dekoriert. Zum Beispiel mit einer stolzen weißen Calla in einer schlanken Vase. Im Sommer manchmal auch nur mit einer von den umliegenden Feldern gepflückten Margerite – jener Blume, die ihr selbst am nächsten kam, so unkompliziert, ungelackt und dennoch von unwiderstehlicher natürlicher Schönheit. Ja, sie hatte ein Händchen gehabt für die Dekoration – und für den Umgang mit den Gästen. Es gab nicht einen Menschen auf der ganzen Welt, der sie nicht geliebt hatte!
    »Elli, du bist perfekt!«, flüsterte Jacques leise in seinen Jean-Reno-Stoppelbart, wie er es sich in all den Jahren ohne sie angewöhnt hatte. Ja, es stimmte. Er sah in der Tat ein wenig aus wie der junge Jean Reno – er war sogar schon mehrfach von Gästen darauf angesprochen worden. Auf die Qualität seiner Küche konnten sie ihn ja nicht mehr ansprechen, ohne ihrem Gastgeber ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Aber so war das Leben nun mal: ein ewiges Auf und Ab, eine sich immer wiederholende Welle, die derzeit leider Gottes auf ihrem tiefsten Punkt angekommen war. Jacques hatte zwar nicht die geringste Ahnung oder auch nur einen kleinen Funken Hoffnung, wie die Welle jemals wieder nach oben schwappen sollte, aber was kümmerte es ihn schon! Bis heute war noch niemand wieder von jenem Ort zurückgekommen, an dem Elli jetzt war. Also würde es für ihn auch in Zukunft mehr oder weniger darum gehen, die Zeit abzusitzen, bis er selbst an der Reihe war. Das war der Plan, und Jacques war bereit, seinen Anteil zu leisten.
    Ihm blieb schätzungsweise noch etwa eine halbe Stunde, bis Gustave mit seinem geheimnisvollen Business Angel eintreffen würde. Zeit genug, sich aus dem schwarzen Beerdigungsanzug zu schälen und zu etwas Leichterem zu wechseln. Als er heute Morgen zu Gustave gefahren war, war Jacques davon ausgegangen, dass dieser ihm möglicherweise bereits die Vollstreckungserklärung unter die Nase halten würde. Gustave war ein wenig schusselig, obwohl nur wenig älter als er selbst, daher war es durchaus möglich, dass zwischen der Ankündigung einer Zwangsvollstreckung und deren Umsetzung mehrere Wochen oder gar Monate vergingen, ohne dass er Jacques in Kenntnis gesetzt hätte. Gott sei Dank war es so weit nicht gekommen. Noch nicht jedenfalls. Unabhängig davon, dass Jacques keinen Partner in seinem Geschäft haben wollte, war allein schon der Umstand ein Grund zum Feiern, dass er Zeit gewonnen hatte. Wofür auch immer. Dass er nicht von heute auf morgen rausmusste, obwohl er die Kredite der Banken schon seit über einem Jahr nicht mehr bediente.
    »Drück uns die Daumen, Elli«, sagte er, als er in der Unterhose vor dem Kleiderschrank im Schlafzimmer stand und den schwarzen Anzug zurück auf die Stange hängte. Seit Ellis Beerdigung baumelte das Kleidungsstück wie eine ständige traurige Mahnung daran – ungetragen, aber nicht unbeachtet.
    »Vielleicht geschieht ja noch ein Wunder.«
    Als Jacques wenig später in einem frischen weißen Hemd und einer dunkelgrauen Hose wieder die Treppe herunterkam, die ins Restaurant führte, wäre er auf halber Höhe um ein Haar gestürzt und hätte sich das Genick gebrochen. Vielleicht wäre es so besser gewesen, dachte er, als er sich in letzter Sekunde fing und auf Gustave blickte, der ihn unten in der Halle erwartete. Im Schlepptau hatte er eine Person, die Jacques nicht unbekannt war. Beim Anblick der beiden fiel Jacques unvermittelt die Kinnlade herunter – er musste es nicht sehen, er konnte es spüren. Im Anschluss an dieses Gespräch würde er in die Stadt zum Kieferchirurgen fahren müssen.
    Das meinst du nicht ernst, Gustave!, betete er bei sich, während die Person ihn anblickte, als wäre sie selbst kaum weniger überrascht als er. In diesem Moment hielt ihn eine einzige Hoffnung aufrecht: dass das Ganze sich als ein dummes Missverständnis herausstellen würde. Dass sich der Anblick, der sich ihm bot, als banale Sinnestäuschung entpuppen würde.

Weitere Kostenlose Bücher