Nachtmahl im Paradies
Marion und Pierre in eine Aschram zu schicken, nach Indien.«
»Nach Tibet«, korrigierte Jacques automatisch, als würde das einen gewaltigen Unterschied machen.
»Ja, Tibet ist besser. Das ist noch weiter, oder?«, fragte Catherine und nahm nachdenklich einen Schluck aus ihrem Wasserglas.
Sie schien ihm absolut nüchtern zu sein, obwohl sie beim Wein nicht zurückhaltend gewesen war.
»Ich glaube – nein, ich bin mir sicher, wir brauchen eine neue Team. Mit dir als Küchenchef, Jacques. Es geht nicht anders.«
Jacques seufzte und versuchte, nicht in sein Weinglas zu beißen, während er es an den Mund führte.
»Und wir brauchen eine neue Schild. Diese alte Leuchtreklame mit die kaputte Buchstaben – das geht nicht, oder?«
Im Klartext: Catherine wollte Pierre und Marion feuern und dafür ihn zurück an den Herd zwingen. Und last but not least die legendäre rosafarbene Leuchtreklame ersetzen, die das Paradies einst so populär gemacht hatte. Abgesehen von der damals recht anständigen Küche, versteht sich.
»Was meinst du: Ziehen wir wieder zurück in die Paradies – oder gefällt uns Paris besser mittlerweile? Das entscheidest du, Jacques. Aber eine neue Schild da draußen vor die Tür muss sein. Und neue Möbel auch, wir müssen raus aus die finstere Mittelalter. Oui? «
Sie musterte ihn fragend. Als hätte er eine Wahl.
Also nickte er nur und seufzte abermals.
»Alles halb so schlimm«, versuchte sie ihn zu beruhigen und schaute ihn an wie ein kleines, süßes Hündchen, das nur spielen will. Nun nahm auch sie ihr Weinglas und stieß es mit einem leisen Klirren gegen seines. »Auf uns?«
Das Fragezeichen nach dem zweiten Wort ließ ihm keine Wahl, wenn er kein Spielverderber sein wollte.
»Auf uns!«, bestätigte er und versuchte ihr dabei so zuversichtlich wie möglich in die Augen zu sehen.
»So, und nun wir sollten die Restaurant schließen – für, sagen wir, ein paar Wochen? Bis die neue Schild fertig ist und die Möbel da sind?«
Jacques wäre fast vom Stuhl gefallen. Hatte er richtig gehört?
»Komm schon! Nur so können wir eine tolle re-opening machen – du weißt schon, mit eine richtig große Big Bang. Sonst merkt es keiner.«
Irgendwie bewunderte er diese Frau. Sie hatte Verve, sie hatte Mut, sie hatte Ideen. Doch sie machte ihm auch Angst. Denn was, wenn sie erst einmal herausfände, dass er ihr rasantes Tempo nie und nimmer würde mitgehen können? Dann würde auch er in Tibet im Aschram landen. Möglicherweise wäre es das Beste, wenn ich mir die Adresse rechtzeitig von Pierre geben lasse und schon mal heimlich Yoga-Stunden nehme, dachte Jacques. Er lächelte Catherine an, als wäre er hocherfreut über die Vorschläge, die sie soeben mit einem Paukenschlag an die warme Abendluft gesetzt hatte. Jene Vorschläge, denen wenig später sein Chefkoch Pierre und dessen mal innig, mal wenig geliebte Marion auf dem Fuße folgen sollten.
In einer bewegenden Ansprache, einem Loblied auf die hohe Kunst der französischen Küche, die bald auch im Paris wieder Einzug halten sollte, gaben Catherine und Jacques dem lieben Pierre, der sich von all den schönen Worten wenig beeindruckt zeigte, noch am selben Abend den Laufpass. Im Gegenzug versprach dieser, wenn auch in deutlich weniger schönen Worten, Marion zu grüßen und ihr alles auszurichten. Das Großreinemachen nahm seinen Anfang.
Ticktack. Ticktack. Ticktack. Jacques lauschte dem beruhigenden Klang des uralten emailleblauen Weckers direkt neben seinem Ohr. Er saß auf einem Hocker in der Restaurantküche, die nun wieder ihm ganz allein gehörte. Es war noch nicht einmal elf. Das Licht des Vollmonds fiel in seiner ganzen kühlen Pracht durch die Fenster, weshalb es eine gotteslästerliche Verschwendung gewesen wäre, Elektrizität für weitere Beleuchtung zu verschwenden. Der Wecker – Jacques nutzte ihn, wie andere Baldrian schluckten oder Beruhigungstabletten. Für die meisten Menschen mochte die Erfindung seines Landsmanns, des Franzosen Antoine Redier, eher ein Synonym sein für einen nahenden Weckruf, doch für ihn war es vielmehr das monotone, klackende Vorrücken des Zeigers, für das er sich in diesem Moment interessierte. Es hatte etwas Beruhigendes.
Die Zeit war schon eine merkwürdige Sache. Catherine mochte keine zehn Jahre jünger sein als er, aber es kam ihm vor, als wäre sie höchstens halb so alt. Die Zahl der Stunden, die sie nun Teilhaberin des Paris war, lag noch im niedrigen zweistelligen Bereich – und
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