Nachtmahl im Paradies
hier in der Küche tätig war.
»Hm, das sieht aber appetitlich aus!«
Er hatte es gewusst! Nein, er hatte es sich gewünscht . Mehr als alles andere. Diese Stimme wiederzuhören. Ihre Stimme.
»Elli!«
Voller Erwartung betrachtete er ihr Spiegelbild in dem großen Fenster vor dem Herd. Sie stand nur einen Schritt hinter ihm. Eine Sekunde zögerte er, sich zu ihr umzudrehen – weil er befürchtete, sie könnte im selben Augenblick wieder verschwunden sein.
»Keine Angst, Jacques. Ich bin hier«, beruhigte sie ihn.
Erleichtert wandte er sich um. Da war sie. Elli wirkte so real wie eben noch Catherine draußen auf der Terrasse. Er konnte nicht anders, als seine Hand sanft auf ihre Wange zu legen und sie zu küssen. Ihre Lippen schmeckten warm und weich – gar nicht wie die eines Geistes.
»Du fehlst mir. Du fehlst mir sogar unglaublich«, gestand Jacques. Er hatte den Mund kaum mehr als einen winzigen Zentimeter von ihren Lippen genommen.
»Du fehlst mir auch, Jacques.«
»Wirklich?«
»Wirklich!«, wiederholte sie. »Es ist nicht so, dass Engel über allem Irdischen stehen.«
»Tun sie das nicht?«, fragte er und kämpfte mit den Tränen.
All die Jahre, die sie zusammen verbracht hatten, hatte er niemals geweint. Und nun, auf einmal, verwandelte er sich in einen dieser Softies, die nah am Wasser gebaut waren. Und das Schlimmste war: Es machte ihm nicht das Geringste aus! Er hätte lachen können und weinen zugleich – vor Freude. Die Erleichterung durchströmte ihn wie das warme, gleißende Licht eines kleinen Schusses Morphium, von dem Patrice in seinen verbotenen Tagträumen als Arzt schwärmte. Es war ein Licht, das einen einhüllte wie eine leichte, seidige Decke aus weißen Federwölkchen. Eine Decke ohne Ende. Eine Decke, die an keiner Stelle zu kurz war. Eine Decke, bei der man sich nicht entscheiden muss, welcher Teil des frierenden Körpers von ihren Liebkosungen unberührt bleiben wird: der Kopf oder die Füße.
»Nein, das tun sie nicht.«
»Wo bist du?«
»Jacques, das kann ich dir nicht sagen. Aber wo bist du?«
»Ich? Ich bin noch immer hier, im Para …« Er hielt inne, bevor er das Wort zu Ende bringen konnte. Denn er war nicht im Paradies – nicht mehr. »Hier im Paris , meine ich«, korrigierte er seinen angefangenen Satz.
»Auch wenn es nun das Paris ist, steht trotzdem noch immer der alte Jacques vor mir?«
»Ja, der steht vor dir.« Er wusste, dass er log. Aber obwohl sie als Engel möglicherweise die Wahrheit kannte – vermutlich sogar besser als er selbst –, konnte er sich unmöglich hier vor ihr eingestehen, dass er nicht mehr der alte Jacques war. Jener Jacques, mit dem der Engel vor seinen Augen zweiundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war.
Er küsste sie erneut. Mit jeder Berührung ihrer Lippen kehrte das Licht in ihn zurück. Durchflutete seinen Körper und seine Sinne. Liebkoste seine geschundene Seele.
»Pass auf, dass deine Gemüsebrühe nicht überkocht«, gab sie zu bedenken, als sich ihre Lippen für einen Moment voneinander lösten.
»Wen kümmert’s?«, entgegnete er. Er wollte jede Zehntelsekunde mit ihr auskosten.
»Den alten Jacques hätte es gekümmert«, tadelte sie ihn. »Er hat es geliebt zu kochen. Liebst du es noch?«
»Natürlich, Elli – natürlich liebe ich es noch! Mehr als je zuvor.«
Da war sie auch schon, Lüge Nummer zwei.
Und doch: In diesem Augenblick war es keine Lüge. Es fühlte sich an wie in alten Zeiten. Elli sah ihm dabei zu, wie er die Brühe vom Herd nahm, sie mit dem klein geschnittenen Gemüse, dem passierten Saft der Liebesäpfel, ein wenig Essig, Öl und Knoblauch pürierte und das Ganze dann mit je einer Prise Meersalz und Chili würzte. Zu guter Letzt gab er noch einen Hauch Vanillezucker hinzu.
»Darf ich mal kosten?«
»Natürlich darfst du!« Jacques konnte seine eigenen Augen zwar nicht sehen, aber er konnte fühlen , dass sie leuchteten. Sie funkelten mit den Sternen draußen am Nachthimmel um die Wette. »Eigentlich muss die Suppe zwar noch auskühlen, aber zur Feier des Tages genehmige ich uns eine Vorpremiere!«
Fast ehrfurchtsvoll führte er einen großen Silberlöffel in den kleinen Kupfertopf, aus dem ihm ein verheißungsvoller Duft entgegenwehte, um zunächst selbst von seiner Kreation zu probieren. Nur zur Sicherheit. Nun, eigentlich war es ja ihre Kreation. Das Rezept stammte von Elli. Während er die Suppe zubereitet hatte, schien ein unsichtbarer kleiner Koch auf seiner Schulter gesessen zu
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