Nachtmahl im Paradies
schon hatte sie alles über den Haufen geworfen, organisiert, geplant und die erforderlichen Maßnahmen für eine erfolgreiche Zukunft eingeleitet. Was er in Jahren nicht vermocht hatte, vollbrachte sie in Stunden. Er selbst war früher auch so gewesen – nun, vielleicht nicht ganz so schnell –, aber der Verlust, der ihn auf Schritt und Tritt verfolgte wie ein langer schwarzer Schatten, hatte ihn zu einem Mann gemacht, der am Stock durch das ihm verbleibende Leben humpelte. Diese völlig unnötige Nachspielzeit, die man ihm aufgebrummt hatte – nach dem verfrühten Schlusspfiff für Elli, einer tragischen Fehlentscheidung des verantwortlichen Schiedsrichters dort oben. Eben dieser Schatten, der ihn seit jenem Tag begleitete, hatte alles Licht und jede Energie in sich aufgesogen wie ein hungriges schwarzes Loch im All sämtliche Materie, die es nur zu fassen bekommen konnte.
Was würde in den kommenden Tagen und Wochen geschehen? Über Monate oder gar Jahre wagte Jacques in Anbetracht der Ereignisse, die sich nach dem langen Stillstand nun plötzlich zu überschlagen drohten, gar nicht erst nachzudenken.
Hätte er jetzt doch nur jemanden an seiner Seite, einen Ratgeber mit weiblicher Intuition, wie Elli sie besessen hatte. Jemanden, der die Arme um ihn schlang und ihn fühlen ließ, dass alles gut werden würde. Doch außer Pferd und Esel war da niemand, und Gustave und Patrice schienen ihm für eine derartige Aufgabe kaum besser geeignet. Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau, die ihm jeden Morgen nach dem Aufstehen ein stärkendes und wohlschmeckendes Frühstück aus Liebe, Vertrauen und Rückhalt in seine Tupperdose packt, bevor er das Haus verlässt und in die Schlacht zieht. Das war die Wahrheit. Jedenfalls galt sie für ihn.
»Reiß dich zusammen!«, befahl er sich. Er durfte sich nicht so gehen lassen.
Jacques wagte den Gedanken kaum zu denken – so wie man einen geheimen Wunsch am besten still bei sich behält, während man einer Sternschnuppe dabei zusieht, wie sie vom Himmel fällt –, aber er war besessen von der Vorstellung, dass Elli ihm ein zweites Mal erscheinen könnte. Heute Nacht. Also jetzt. In Anbetracht dieser Aussicht erschien ihm das Mondlicht dann doch als eine Prise zu kühl. Da das Paris nunmehr offenbar stillgelegt war, bis die neue Leuchtreklame und die Möbel eintrafen – und Jacques wieder zu alter Form auflief, denn darum ging es Catherine natürlich in erster Linie –, gab es keinen Grund, warum er dem aschfahlen Mond nicht ein wenig auf die Sprünge helfen sollte. Mit einer oder besser noch zwei Handvoll Kerzen, mit denen er ein wahres Lichtermeer entzündete. Danach machte er sich daran, das Rezept, das er gestern so unvermittelt abgebrochen hatte, als Elli vor ihm aufgetaucht war, von Neuem anzugehen.
»Na, mein Liebesapfelsüppchen, jetzt kommst du in den Kochtopf«, flüsterte er gedankenverloren vor sich hin.
Die gesamte Küche schien in Flammen zu stehen – ohne dass sie abbrennen würde, dafür würde er Sorge tragen. Nicht in dieser Nacht. Die Zünglein der Flammen spiegelten sich tausendfach im Fensterglas, auf den metallischen Oberflächen, in den Töpfen, Pfannen, Schöpflöffeln, Messern. Das warme Licht ließ ihn sentimental werden, aber es erhöhte möglicherweise auch die Chance, in dieser Nacht einem Engel zu begegnen – denn Engel liebten Kerzenlicht und romantische Stimmung. Jedenfalls vermutete er das. Nein, er musste fest daran glauben! Er würde Elli wiedersehen!
Mit neu erwachtem Eifer widmete er sich dem Gemüse. »Die Liebesäpfel entstrunken, eine halbe Minute in kochendes Wasser tauchen, abschrecken, enthäuten, vierteln und entkernen«, las er im Licht der flackernden Kerzen, was Elli in ihrer entzückenden Handschrift notiert hatte. So lange hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen und verliebte sich in diesem Moment stiller Beschäftigung prompt ein zweites Mal.
Zeit und Raum verschwanden aus seinem Blickwinkel, während er voll und ganz in das Spektakel eintauchte, das zwei überaus geschickte Hände – seine eigenen – direkt vor seinen Augen für ihn inszenierten, als würden sie von den unsichtbaren Fäden eines Puppenspielers geführt. Es war, als säße er auf einem Schrank und beobachtete sich selbst dabei, wie er, nein, nicht kochte, sondern zauberte! Der Jacques, der hier gerade die Zubereitung eines simplen kleinen Süppchens zelebrierte, schien nichts gemein zu haben mit jenem Jacques, der sonst von Zeit zu Zeit
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