Nachtmahl im Paradies
haben – ein himmlischer Helfer, der ihm ins Ohr geflüstert hatte, wie aus einem kleinen, simplen Süppchen ein mächtiges Geschmackserlebnis werden könnte. Denn genau das war es! Er traute sich kaum, es laut auszusprechen, aber dies war die beste Suppe, die er seit Jahren gekocht hatte. Hoffentlich sah Elli es genauso. Und sie war ja noch nicht einmal fertig. Über Nacht würde er sie im Kühlschrank durchziehen lassen, so dass sie morgen zum endgültigen Verzehr freigegeben wäre. Für wen auch immer.
»Und?«, fragte Elli. Offensichtlich hatten seine Züge ihn nicht verraten.
»Sag du es mir«, schlug er vor.
Vorsichtig führte er den Löffel an ihren Mund. Eine Sekunde lang befürchtete er, die Suppe würde einfach ungebremst auf den Küchenboden klatschen. Weil sie doch Luft war – obwohl er den Geschmack ihrer Lippen gekostet zu haben glaubte. Doch seine Angst sollte sich als grundlos erweisen. Offenbar hatte er etwas zu lang auf den Boden unter ihren Füßen gestarrt. Denn als er wieder ihr Gesicht fokussierte, bedachte Elli ihn bereits mit einem ebenso leisen wie nachsichtigen Kopfschütteln, das eine Spur belustigt wirkte.
»Du weißt, was ich gerade gedacht habe?«, fragte Jacques. Er fühlte sich ertappt.
Sie nickte vergnügt.
»Aber ich weiß noch immer nicht, was du denkst«, sagte er. »Schmeckt die Suppe nun, oder nicht?«
»Himmlisch«, sagte sie und leckte sich zur Bestätigung die Lippen. »Sie schmeckt himmlisch, Jacques. Und du hast sie gekocht!«
Das war zwar nicht komplett geschwindelt, aber ein bisschen kam es ihm so vor. Der Jacques, den er seit Ellis Tod kannte, war eigentlich nicht mehr in der Lage, eine solche Suppe zu kochen. Irgendwer hatte hier die Finger im Spiel.
»Kochst du morgen wieder für mich?«
»Natürlich! Jede Nacht von nun an, wenn du willst! Wenn du nur nicht wieder fortgehst.«
»Ich muss«, flüsterte sie.
In ihren Augen las er Bedauern. Das konnte … nein, es musste heißen, dass sie bereits wieder im Begriff war zu gehen. Ihn allein zurückzulassen in seinem Leben, das ohne sie kein Leben war.
»Warte!«, rief er, während die Panik ihn wieder in den Würgegriff nahm. »Nicht jetzt schon!«
Verzweifelt versuchte er sie festzuhalten, sie mit einer Umarmung am Gehen zu hindern. Doch bereits in derselben Sekunde schien sie nur noch aus Licht zu bestehen. Es war dasselbe warme, gleißende Licht, das ihn durchströmt hatte, als sich ihre Lippen berührten.
Dann, von einem Augenblick auf den anderen, erlosch das Licht. Jacques blieb allein zurück. In der Küche des Paris , mit all den Kerzen – und Ellis Liebesapfelsüppchen, dem einige eisige Stunden bevorstanden.
Er hatte sich so sehr gewünscht, dass Elli die Nacht mit ihm verbrachte. Seine Tage waren quälend. Aber seine Nächte waren schier unerträglich. Sobald das letzte Tageslicht verschwand, breitete sich die Dunkelheit auch in ihm aus. Die Dunkelheit und ihre beiden traurigen Geschwister – die Verlorenheit und die Einsamkeit. Natürlich musste er sich fragen, ob sein forcierter abendlicher Weinkonsum in den vergangenen Jahren eine reine Genussfrage war – oder aber ob er auf diese Weise ebendiese drei Geschwister zu vertreiben suchte. War es gut, übermäßig zu trinken? Nein! Hätte er sich ein Seil besorgt und sich damit erhängt, wäre sein gut sortierter Weinkeller nicht gewesen? Ja!
Jacques nahm den Suppentopf und stellte ihn in den Kühlschrank. Danach löschte er die Kerzen und ging zu Bett. Allein. Aber mit einem Gefühl im Herzen, dass er vielleicht doch nicht ganz so allein war, wie er all die Jahre geglaubt hatte. Dass Elli noch immer da war. Dass ein Engel über ihn wachte. Ein Engel, der ihn daran hinderte, noch mehr Unfug anzurichten, als er es ohnehin schon getan hatte.
Als er am nächsten Morgen erwachte, fiel die Mittagssonne bereits erbarmungslos in sein Schlafzimmer, was ihn nicht daran hatte hindern können, bis in die Puppen zu schlafen. Auf einmal überfiel ihn der Gedanke an all die Kerzen, die er gestern Nacht gelöscht hatte: Womöglich hatte er eine übersehen, und das Paris brannte bereits lichterloh. Und der Herd – hatte er ihn wirklich ausgestellt? Er musste dringend nachsehen, was unten los war, zumal vermutlich weder Pierre noch sonst jemand heute hier aufkreuzen würde, denn seit gestern Abend war das Restaurant auf unbestimmte Zeit geschlossen.
Mit zerzausten Haaren, barfuß und unrasiert stakste Jacques in seinem dunkelblauen Pyjama die Treppe
Weitere Kostenlose Bücher