Nachtpfade
näher untersuchen? Altes
Holz, neues?«
»Sie sind dran«, sagte Evi in leicht genervtem Ton.
»Gut, so lange suchen wir das Boot, und dann haben wir
vielleicht den Mörder.« Gerhard grinste.
»Wenn das nur so einfach wäre!«
»Der Soiener See ist ja nicht gerade der Chiemsee,
Evilein, auch nicht der Bodensee. So viele Boote gibt es da ja wohl kaum. Ein
paar private vielleicht? Und ein paar Leih-Ruderboote beim Fischerhäusl.«
»Ja, aber auch ein Boot kann man verschwinden lassen«,
rief Evi.
»Evi, du Unke! Mag ja alles sein, lassen wir die
Schilfzone durchsuchen. In der Kürze der Zeit wird es kaum einer aus dem Wasser
gehoben und abtransportiert haben, oder?«
»Möglich ist alles«, sagte Evi, die eben doch unken
wollte.
»Klar, aber irgendwo müssen wir doch anfangen. War
sonst noch was?«
Evi schenkte ihm einen dramatischen Augenaufschlag.
»Das Mädchen hatte wohl wirklich massive Probleme. Die Gerichtsmedizinerin hat
tiefe Abschürfungen am Ansatz ihres rechten Zeigefingers gefunden.«
»Ja und?«
»Jacky war Rechtshänderin!«
»Hast du gerade deine drolligen fünf Minuten? Evis
lustige Ratestunde? Das Mädchen hatte massive Probleme, weil sie Rechtshänderin
war oder weil sie einen Kratzer am Zeigefinger hatte?« Gerhard legte die Stirn
in Dackelfalten, na der Tag begann ja schon wieder gut.
»Männer!«, rief Evi. »Den männlichen Kollegen der
Pathologin ist das auch nicht aufgefallen. Jacky hat sich den Finger in den
Hals gesteckt. Sie litt an Bulimie und wohl von der übelsten Sorte. Ihre
Magenschleimhaut war komplett im Eimer, ihre Speiseröhre auch schon sehr in
Mitleidenschaft gezogen. Sie muss sich wohl über Jahre hinweg mehrmals täglich
übergeben haben.«
»Bulimie?«
»Ja, Ess-Brech-Sucht. Ein großes Problem bei jungen
Frauen, so wie Magersucht auch. Die Mädels essen, denken, sie werden zu dick,
und führen absichtlich Erbrechen herbei. Bulimie ist meist auch ein Anzeichen
für psychische Probleme und für mangelndes Selbstwertgefühl. Es gibt bei
einigen auch diese Tendenz, sich selbst Schaden zuzufügen. Jacky Paulig war
eine sehr unglückliche junge Frau«, sagte Evi.
Sich selbst den Finger in den Hals zu stecken? Das war
pervers, und selbst Gerhard, den die ganze Psychokacke, wie er das auch heute
für sich nannte, eher abschreckte, war überzeugt, dass solches Verhalten
wirklich pure Verzweiflung sein musste. Kotzen, Reihern, Speien – das war ja
wohl das Unwürdigste, was es gab. Auf Knien vor der Kloschüssel, das pure
Elend, und in seinem Leben waren das zwei oder drei der übelsten Tage gewesen,
als er in so eine Position gezwungen worden war.
Weil er so lange geschwiegen hatte, kam von Evi: »Lädst du gerade deine Munition für eine deiner legendären Reden gegen alles,
was mit der Psyche zu tun hat, deren Existenz du ja gerne leugnest?«
War er wirklich so ein Arsch? Gerhard war betroffen,
ließ sich das aber nicht anmerken.
»Nein, Evi, ich bin mir dessen bewusst, dass man so
etwas nicht unterbewerten sollte. Wir haben eine zutiefst verletzte junge Frau,
die beschissen aufgewachsen ist. Die entwurzelt war. Die ermordet wurde. Deren
Leben kurz war und nicht mal schön. Danke, Evi, das habe ich alles begriffen!«
Evi schluckte.
»Ruf mal bei diesem Fischerhäusl an, wegen der Boote.«
Gerhard wandte sich ein paar Unterlagen auf seinem Tisch zu.
Als Evi den Raum verlassen hatte, lehnte sich er sich
in seinem Stuhl zurück. Seine Augen glitten über die Bilder des Mädchens, die
auf eine Stellwand gepinnt waren. Jeanny, quit living on dreams, Jeanny,
life is not what it seems … Auch er hatte dieses Video vor Augen und den
Sound im Ohr, den Skandalsong der Achtziger, er war definitiv Generation Falco. Drah di net um, der Kommissar geht um … Hätte er damals gewusst, dass er
mal Hauptkommissar sein würde, Leiter einer Mordkommission? Nachfolger des
legendären Peter Baier, der vor einem Monat in Pension gegangen war? Dass er
sozusagen eine Karriere machen sollte? Nein, Anfang der Achtziger war er bester
Kunde im Pegasus und im Oberwang gewesen und, was die Kunst des Tütenbauens
betraf, der Held in Willofs. In den Polizeijob war er irgendwie
reingeschlittert, und er hatte seine Karriere nie bewusst vorangetrieben.
Manchmal, als junger Mensch, hatte er die beneidet, die schon lange vor dem
Abitur genau gewusst hatten, wohin ihr Weg sie führen musste. Die ihren
Abiturschnitt aktiv nach oben korrigieren konnten. Oder nein, beneidet hatte er
sie nie, Neid
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