Nachtpfade
verarbeiten. Es war das erste Mal in seinem
bisherigen Leben, dass er spürte, wie endlich alles war. Dass auch er nur
begrenzte Reserven hatte. Noch nie hatte er das so deutlich empfunden. Sein
Blick fiel auf den Kalender, das Jahr ging schon wieder zur Neige. In wenigen
Tagen würde November sein, wo er doch noch die Löwenzahnwiesen vor Augen hatte.
Kassandra und Jo vor ihrem neuen Heim inmitten von Löwenzahnwiesen. Kassandra,
die Gute, die Beste von allen. Kassandra, die in Freiburg war. Die irgendwann
wiederkommen würde, aber gleichzeitig wusste er, dass da eine Kluft entstanden
war. Er wusste, dass er es versiebt hatte. Wieder einmal. Weil sein Job ihm
wichtiger gewesen war und weil er es wieder einmal nicht geschafft hatte, sich
von Jo zu lösen. Die sich immer in sein Leben gedrängt hatte mit all ihren
anstrengenden Ideen, ihrer gnadenlosen Intoleranz, ihrem voranpreschenden
Gerechtigkeitsfimmel, ihrer selbstzerstörerischen Tierliebe, ihren fatalen
Selbstzweifeln und ihrer noch fataleren Selbstüberschätzung. Natürlich auch mit
ihrer seltsamen Schönheit, die ihn immer dann am meisten ergriff, wenn sie
schwach war, verwundet, müde. Immer dann, wenn sie als Frau sich sicher am
liebsten verkrochen hätte vor der Welt – wegen der Augenringe, der tieferen
Falten –, dann fand er sie schön, bedrückend schön.
Er rief sich zur Räson. Es war jetzt wirklich keine
Zeit, über sein kaum vorhandenes Privatleben nachzusinnen. Er rief Hajo an und
nannte den Namen des Miesbachers: Ferdinand Friedl. Hajo kannte den Mann.
»Oh, da gehst du auf glühenden Kohlen, da wetz schon
mal die Messer. Friedl ist ein hochintelligenter Bursche, ein brillanter
Geschäftsmann, aber er ist auch ein Bluthund.«
»Bluthund?«
»Ja, in der Jagd brechen bei ihm anscheinend die
niedersten Instinkte durch. Er hat schon öfter wegen übler Jagdmethoden seine
Jagdpacht verloren.«
»Üble Methoden?«
»Weißt du, der ist ein Trophäenjäger, einer, der Tiere
als Ausbeutungsobjekt benutzt, nicht wie ein waidgerechter Heger, der in Tieren
einen Partner sieht. Ein guter Freund von mir war mit ihm mal auf Jagd, und es
gab einen echten Eklat. Er hat doch allen Ernstes beim Rotwild die
Zukunftsböcke weggeschossen.«
»Wen weggeschossen?«
»Zukunftsböcke, das sind junge Böcke, die man einfach
nicht abschießt. Ein Hirsch wird vierzehn bis zweiundzwanzig Jahre alt. Mit
zwölf Jahren geht es okay, einen solchen Burschen abzuschießen, aber nicht in
der Blüte mit drei, vier, fünf Jahren.«
»Hätte er sich irren können, ich meine, sieht man
denn, wie alt so ein Bock ist?«, fragte Gerhard.
»Natürlich. Wenn mir ein fünfjähriger Zwölfender vor
die Flinte läuft, weiß ich in etwa, wie alt der ist. Ein älteres Tier sieht
auch älter aus: Die Kehle hängt durch, der Rücken hat sich gesenkt. Das ist
Humbug, wenn einer erzählt, er hätte das nicht bemerkt. Der ist entweder
sehbehindert oder ein Schwein.«
»Irrtum wirklich ausgeschlossen?«
»Bei deinem Freund Friedl sicher, der Mann hat
Erfahrung. Aber das ist auch einer, der mal einen Deichselhirsch trifft, wenn
der zu nahe an seinem Hochstand grast.«
»Und was ist das bitte wieder?«
»Ein Deichselhirsch ist ein Pferd«, sagte Hajo.
»Wie bitte, der schießt auf Pferde?« Gerhard konnte es
nicht glauben.
»Nun, da gab es vor einigen Jahren den Fall, dass zwei
Haflinger totgeschossen wurden, und just jener Friedl hat glaubhaft versichert,
dass er in der Dämmerung die beiden für Wild gehalten habe. Die Tierschützer
liefen damals Amok, aber dann ist der Besitzer der beiden Hafis eingeknickt.
Wird schon ordentlich geschmiert worden sein.« Hajo machte eine Pause und fügte
dann hinzu: »Pass bloß gut auf, der Mann ist ein Sieger, er will in allen
Lebensbereichen gewinnen, und sein geschäftlicher Erfolg gibt ihm ja auch
recht.«
Als sie schließlich alle drei Herren gehen ließen,
weil sie nun mal nichts in der Hand hatten, fühlte er sich ausgelaugt wie
selten zuvor. Er war richtig froh um Evis Zorn. Sie war so lebendig.
»Das ist doch der Wahnsinn! Die Schwester von Erhard
gibt ihm ein Alibi für genau die Mordzeit! Warum? Merde! Scheiße! Shit!
Warum?«, rief Evi.
»Weil es die Wahrheit ist? Evi, beruhige dich, solche
Kraftausdrücke sind nicht dein Stil.«
Evi schrie regelrecht. »Vergiss den Stil. Toll,
Weinzirl, toll! Es kotzt mich an. Dieser ganze Fall kotzt mich an. Diese
Bauernschädel kotzen mich an!«
»Evi, mich kotzt das ebenso an wie dich. Aber
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