Nachtpfade
wir
können nichts machen. Momentan zumindest nicht. Finde ein Boot mit den
Fingerabdrücken von Anton Erhard, finde Zeugen, die ihn in der Nacht gesehen
haben. Dann sind wir wieder im Spiel. Und bis dahin fahren wir jetzt mal nach
Miesbach zu diesem sauberen Herrn Ferdinand Friedl. Der interessiert mich weit
mehr als der Erhard. Dieser Miesbacher, der in der Jagdszene überdies sehr in
Verruf geraten ist, der war mit Jacky am Abend vor dem Mord zusammen, er wird
derjenige gewesen sein mit dem Geländewagen. Die Zeugin hat also wirklich Jacky
in Bad Bayersoien gesehen. Und das erfahren wir erst jetzt. Ich glaub es ja
nicht.«
»Das heißt, es fehlt uns ein Zeitfenster von sieben
Stunden. Jacky steigt um acht Uhr bei diesem Autohändler aus und ist um drei
Uhr tot. Wo war sie dazwischen?«
»Vielleicht beim Fahrer des Geländewagens, der nun
eine Marke hat: Landrover. Fahren wir nach Miesbach zu diesem Friedl.«
Kapitel 6
»Verachtung war auf seinen Lippen.
Man ahnte, dass dieser Mensch mit keiner
unbedeutenden Absicht sich befasse.
Ein andrer mochte seine Ruhe mehr
einer natürlichen Herzenshärte danken.«
Hölderlin, Hyperion
Nach Miesbach zu fahren war im Grunde ein Katzensprung
und doch eine Geduldsprobe. Es begann schon mit vier Bulldogs zwischen Etting
und Tauting, setzte sich fort mit unzähligen Lkws zwischen dem Kreisel bei
Söchering und der Autobahnauffahrt der A99. Sie krochen durch Bad Heilbrunn,
und Gerhard war schon versucht, sich bei der gleichnamigen Teefabrik eine
beruhigende Mischung zusammenstellen zu lassen. Die Fahrt zog sich ja hin wie
Kaugummi, und Himmel – war er lange nicht mehr hier gewesen! Immerhin gab das
Café Nirwana noch und das Treibhaus, das er von früher kannte, von der
Polizeischule, als er mal mit einer Clique aus Tölz rumgehangen war. Der Turm
kam ihm ins Gedächtnis, das war doch eine Kneipe nach seinem Geschmack gewesen.
Die Luft zum Schneiden, die Befüllung jenseits aller feuerpolizeilichen
Richtlinien, die Musik rockig und die Leute nicht Schicki, was hier im
Dunstkreis von München nicht selbstverständlich gewesen war, schon gar nicht zu
einer Zeit, in der es Popper gegeben hatte und die Mädels mit den tief im
Nacken festgezurrten Pferdeschwänzen und den Perlenketten. Motto: Opi war
Jurist, Papi ist Patentanwalt, und ich bin blond, schön und doof – aber reich
und studiere Jura. Der Repetitor und Papi werden’s schon richten …
Das war nie seine Welt gewesen, und deshalb war dieser
Turm stets Balsam für seine Anarchistenseele gewesen. Gerhard war völlig platt
angesichts der gewaltigen Hacker-Arena und mehr noch angesichts dessen, was aus
dem ehemaligen US -Army-Gelände
geworden war. Die unendlichen Neubauten in Reichersbeuern gemahnten ihn daran,
dass hier Pendler-München wirklich viel näher war als im äußersten Westen des
Pfaffenwinkels. Jos dämliche Schallschutzwall-Geschichte fiel ihm ein.
Sie querten die Straße zum Tegernsee, passierten den
Soldatenfriedhof, und rechts flogen Höfe vorbei. Große Höfe, extrem schmucke
Höfe, Höfe, von denen Gerhard wusste, dass sie reichen Münchnern gehörten und
die echten Landwirte im kleinen Nebengebäude lebten und das gesamte Anwesen
pflegten. Einzig die Fabrikanlage im Mangfalltal sah genauso verhaut aus wie
vor Jahren, und natürlich wurden sie von gelben und roten Kennzeichen auf der
kurvenreichen Strecke aus dem Talgrund hinaus just ausgebremst. Jetzt im späten
Herbst war das weniger tragisch. Später würde diese Meute dann winterreifenlos
durch den Schnee schlitterten und mit fünf Stundenkilometern durch den Winter
kriechen.
Wann war er zuletzt in Miesbach gewesen?, fragte sich
Gerhard, als sie abgebogen waren. War er überhaupt jemals in Miesbach gewesen?
Doch, irgendwann mal am Amtsgericht, das ein früherer Kollege als »Miesgericht
Amtsbach« betitelt hatte. Gerhard ließ Evi erst mal in der Nähe des Zentrums
parken, er wollte sich und der Kollegin noch ein paar Minuten zum Durchatmen
gönnen. Sie stellten das Auto gegenüber einer Buchhandlung ab. »Auf zwei Sachen
im Leben kann man nicht verzichten: auf Katzen und Literatur«, stand da auf
einem Poster, das einen literarischen Katzenkalender anpries. Himmel, ließen
ihn diese Viecher denn nie los? Sein Blick schweifte über die Auslage. Von
Stars der Regionalkrimi-Szene war da die Rede. Warum lasen Menschen freiwillig
über Mord und Totschlag und auch noch ausgerechnet in der Gegend, in der sie
wohnten? Warum delektierten sich
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