Nachtpfade
zuzutrauen. Aber warum dann
dieser Ort? Da steckte doch eine Botschaft dahinter. Und auf einmal fügte sich
eins zum anderen. Der blaue Bus, der ihnen von Miesbach gefolgt war, war
derselbe wie der im Hahnenbühl und der, der ihn ausgebremst hatte. Die beiden
Männer in der Post! Das alles nahm seinen Ausgang in Miesbach. Friedl,
Ferdinand Friedl, der Mann, der nicht verlieren konnte, der musste das
angezettelt haben, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Kommissar,
der es gewagt hatte, sich ihm entgegenzustemmen, aus dem Weg räumen und den
Verdacht auf Weinling lenken, um jenen erneut die lange Hand seiner Macht
spüren zu lassen. Die beiden Männer, das waren seine Schergen gewesen. Die
Post, die Pizza – Jo und Kassandra mussten ihn vermissen. Sie würden ihn suchen.
Würden sie? Doch, denn er war vielleicht manchmal ein unsensibler Grantler,
aber er war nicht unzuverlässig. Die beiden würden in der Pizzeria anrufen,
erfahren, dass er da gewesen war, und sie würden ihn suchen. Aber wo? Hier?
Wohl kaum!
Die beiden Männer mit den Skimützen hatten sein Auto
sicher irgendwo entsorgt. Niemand würde ihn finden – oder doch, der Weinling.
Der würde doch sicher morgen in seine Halle kommen. Oder nicht? Und was, wenn
er dann längst schon tot war? Eine neue Welle der Panik rollte heran, er konnte
einfach nichts dagegen tun. Noch einmal brüllte er wie ein wildes Tier, das
gefangen war. Das nichts konnte außer brüllen, anschreien gegen diese
unverständliche Macht, die ihm das einzige Gut genommen hatte, das es besaß: die Freiheit.
Er war wohl irgendwie weggenickt, nun schien es ihm,
als würde es dämmern, irgendwo begann ein Vogel zaghaft zu singen. Das war wie
ein Trost, ein Totenständchen. Gerhard war so müde, das Atmen fiel ihm schwer,
er war wirklich sehr müde, und einen Gedanken konnte er noch denken, bevor er
erneut das Bewusstsein verlor: Schade um die Pizza, vielleicht hätte der Abend
mit den beiden Mädels ja die seltsame Stimmung, die über ihrer aller Beziehung
lag, vertreiben können. Mit Kassandra hätte er reden wollen, die es immer gut
meinte, mit ihm, mit der Welt, die mit der bemerkenswerten Gabe gesegnet war,
auch dem Sturz in eine Odelgrube noch etwas Positives abzugewinnen. Eigentlich
war das doch sein Part, er war Mister Blue Eye, Mister Strubbelhaar, Mister
Optimist. Hatten ihm seine Freundinnen – Jo inklusive und vor allem – nicht
immer vorgehalten, er sei eine Opportunisten-Sau? Der Vorwurf hatte gelautet: Er würde seine Freundschaften nicht pflegen. Er würde überall auf der Welt
zurechtkommen und sofort neue Freunde finden. Er würde die alten verleugnen und
verraten! Er sei zu echter, tiefer und tiefsinniger Freundschaft nicht in der
Lage. Seinen Optimismus, seine
Das-Leben-ist-hart-genug-trinken-wir-ein-Bier-Mentalität hatten sie ihm
vorgeworfen. Und nun war Kassandra genauso, so als würde er in den Spiegel
sehen! Mit welch bemerkenswerter Geschwindigkeit hatte sie den Stammtisch der
Flößerstube erobert. Mit welch bemerkenswerter Nonchalance konterte sie dumme
Sprüche, bremste brummige alte Bauernschädel und vorlaute Jungspunde aus. Und
flirtete mit Jungs, die ja fast ihre Söhne hätten sein können. Na ja, nicht
ganz, aber Kassandra war wie er, und vielleicht störte ihn genau das. Er
erinnerte sich daran, wie sie ihren Begriff von Luxus definiert hatte: dort zu
leben, wo es keine Autobahnkreuze gibt. Dort, wo man zu Fuß zur Arbeit gehen
konnte und keine zwei Stunden täglich auf der Straße lässt. Dort, wo man die
Sterne besser sieht, weil keine mannigfachen menschlichen Lichtquellen den
Himmel verpesten. Dort, wo es keinen Nebel gibt und Smog auch nicht. Dort, wo
man Platz hat, zweihundert Quadratmeter statt Citywohnklo. Dort, wo der nächste
Nachbar so weit weg ist, dass man sein Grillfleisch weder sehen noch riechen
muss. Dort, wo Gärten wild wuchern dürfen, wo Apfelbäume uralt sind und knorrig
und der Hochstamm einer Traditionssorte, kein aufgepfropfter Stiel. Dort, wo
Vögel noch aus Wasserpfützen trinken können und drin baden, weil die Straße
unasphaltiert ist und Pfützen stehen bleiben. Dort, wo man sein Haus nicht zusperren
muss und sein Auto auch nicht. Wo Katzen irgendwo graben dürfen, um ihr
Geschäft zu verrichten, und kein panischer Nachbar Angst um sein Blumenbeet
hat. Dort, wo man die Luft schmecken und riechen kann. Dort, wo man von der
Haustür wegspazieren kann, ohne erst mal ein Auto bemühen zu müssen. Dort, wo
einen
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