Nachtpfade
nach ein paar Metern weite Wiesen begrüßen, dunkle Wälder umfangen. Wo
Flüsse noch mäandrieren und Schluchten gefräst haben – alles ohne Korrektur von
Menschenhand. Dort, wo man zu jeder Tageszeit auf einer anderen Seite des
Hauses Sonne hat. Dort, wo Pferde grasen und Kühe wiederkäuen, weil das so
unendlich beruhigt. Wenn man dort wohnen darf und sich bei der Arbeit auch noch
die Zeit selbst einteilen kann, dann ist man ein Luxusgeschöpf, hatte Kassandra
gesagt. Vieles davon deckte sich mit seinem Begriff von Luxus, er war
eigentlich froh, dass Kassandra in ihrem und Jos Haus angekommen zu sein
schien. Er hätte Kassandra das sagen wollen, dass er sich mit ihr freute. Noch
so viel hätte er ihr sagen wollen – Jo auch. Quattro Formaggi, das war doch Jos
Lieblingspizza, klar, als Allgäuerin. Dachte man an Käse, wo doch angeblich die
Engel zu singen beginnen und das eigene Leben an einem vorbeizieht? Selbst im
Tode war er ein banaler Charakter, er dachte an Pizza. Seltsamerweise beruhigte
ihn das.
Von irgendwoher kamen Geräusche. Er hörte Stimmen,
Hundebellen, dann sah er die Lampen. Eigentlich nahm er die ganze Hektik um ihn
herum gar nicht mehr richtig wahr. Später hörte er seine eigene Geschichte so,
als läse er staunend ein Buch. Ein Werk, das ihm sicher übertrieben vorgekommen
wäre, wäre er nicht … ja, wäre er nicht der Mann in Gips gewesen.
Wahrscheinlich hatte er diese Seiten im Buch seines Lebens nun schon zehnmal
aufgeblättert und konnte das alles immer noch nicht so recht begreifen.
Kassandra und Jo hatten sich tatsächlich Sorgen gemacht und mit Evi Kontakt
aufgenommen. Diese hatte auch keine Idee gehabt, aber vorgeschlagen, mal
nachzusehen, ob er in der Flößerstube gestrandet war. Dort hatten sie den
Grübchen-Landwirt getroffen, der zu berichten wusste, dass Gerhards Bus am
Parkplatz stand. Jo und Kassandra waren hingefahren, da war kein Bus gewesen.
Weil aber der Grübchen-Landwirt noch in der Phase Spezi gewesen war und noch
weit weg von Phase Bier oder gar Enzian, waren sie versucht, ihm zu glauben. Es
musste etwas passiert sein.
Davon war auch Evi überzeugt, und ein Suchtrupp wurde
angefordert; einer mit Flächenhunden, die diesen Job seit Jahren machten. Evi
hatte inzwischen mehrfach zugegeben, dass sie eigentlich nur versucht hatte,
ihre Panik niederzukämpfen. Denn in ihrer Laufbahn hatten die Hunde noch nie
jemanden gefunden – Kinder, alte Leute, Verwirrte oder Suizidgefährdete. Aber
zumindest wusste man dann, dass jemand in einem bestimmten Bereich definitiv
nicht war. Als sie ausgeschwärmt waren, zeigte die Uhr fünf Uhr morgens.
Kurz darauf kam über die Notrufzentrale ein anonymer Anruf rein. »Wenn Sie
Ihren Kommissar suchen, würde ich das in Schönberg auf bekanntem Terrain tun.«
Es war ein unglaublicher Tumult losgebrochen: Autos, Suchtrupps, Hunde, halb
Schönberg war auf den Füßen gewesen. Die Suche hatte bei Erhard begonnen und
war dann bei Weinling fortgesetzt worden. Um genau sechs Uhr fünfundvierzig
wurde Gerhard gefunden. Um sieben Uhr fünfzehn grob befreit, um sieben Uhr
zwanzig im Hubschrauber ins UKM in
Murnau gebracht. Ohne das Geschick eines Weinling, der es perfekt verstanden
hatte, mit dem Hammer umzugehen, hätte das alles womöglich viel länger
gedauert. Es war Gips gewesen, in den man ihn gegossen hatten. Der Bottich
hatte sich als eine alte Moorwanne entpuppt, ein hölzernes Relikt der Badekuren
lange vor den Zeiten moderner Kurhäuser. Für Gerhard war diese Wanne ein
Glücksfall, denn man konnte sie relativ leicht abbrechen.
Gerhards Gesundheitszustand war einen Tag lang sehr
kritisch gewesen, weil er massiv unterkühlt war und zudem etwas Neues über
seinen alternden Körper erfahren hatte. Er litt unter einer Allergie gegen
Bindemittel, bei Maurern nannte man so etwas »Maurerkrätze«, die allerdings
meist in Zusammenhang mit Beton auftrat. Er war am ganzen Körper mit Pusteln
übersät gewesen, und zudem hatte er nun eine Ahnung davon, wie Frauen bei der
Enthaarung litten. Taillenabwärts war er nun glatt wie David Beckham.
Gerhard war wirklich richtig froh, im Krankenhaus
gleich am zweiten Tag neben Evi auch Baier zu sehen, denn der würde ihn nicht
wie mit Glacéhandschuhen anfassen, ihn nicht ansehen wie einen Außerirdischen.
Den Mann, der doch kein Brückenpfeiler geworden war! Baier hatte sich zu ihm
hinuntergebeugt und etwas getan, das für den alten Haudegen früher undenkbar
gewesen wäre: Er umarmte Gerhard und
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