Nachtpfade
im Urlaub. Okay, die Eltern hatten
Streit wegen des Kuckuckskindes. Aber die töten es doch nicht. Die haben sich
wahrscheinlich furchtbare Vorwürfe gemacht, dass sie über dem Streit das Kind
vergessen haben. Und die Gastgeber machten sich auch Vorwürfe, das ist doch
klar. Überlegen, ob sie die Tragödie nicht hätten verhindern können. Und geben
ihren Urlaub auf dem Bauernhofbetrieb auf. Ich kann das verstehen. Das erklärt
uns doch, warum Marianne und Anton Erhard keine rechte Lust mehr auf
Bauernhofurlaub hatten, oder?«
»Erklärt es das wirklich, Evi? Ich meine, du bist als
Gastgeber dafür verantwortlich, dass die Zimmer in Ordnung sind und dafür, ein
bisschen Entertainment zu bieten. Du wirst die Urlauberkinder beim Melken
helfen lassen, und du magst mit ihnen aufs Feld fahren. Aber du bist kein
Kinderklub und kein Kindergarten und schon gar nicht dazu da, die Fehler der
Eltern auszubügeln.«
»Ja gut, aber da wäre doch immer der Makel gewesen: Das ist der Todeshof, der Hof, wo das Kind überfahren wurde. Wer hätte da noch
gebucht?«, rief Evi.
»Ach, Evi-Herz, vielleicht nicht im selben Sommer.
Aber dann? Solche Sachen werden totgeschwiegen. Wir haben das doch auch erst
durch intensives Buddeln und Graben entdeckt. Und dann buchen viele Leute übers
Internet. Da wird kaum drinstehen, dass das der Todeshof ist. Irgendwas stimmt
da nicht.« Gerhard spielte mit einem Radieschen zwischen den Fingern.
»Etwas stimmt da nicht«, wiederholte Baier schließlich
gewichtig. Er atmete tief durch. »Stadtkinder lieben Traktoren.« Baier starrte
Gerhard mit zusammengekniffenen Augen an.
»Baier, das ist jetzt aber schon eine sehr verwegene
Idee, oder?«
Baier grinste diabolisch. »Aber eine gute.«
»He, wovon redet ihr?«, fiel Evi ein.
»Liebste wunderhübsche Kollegin Straßgütl: Denk nach.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein kleiner Junge in der Dämmerung
mit dem Rad bis zur Straße gelangt, die um die Zeit sehr wenig befahren ist?
Dass der Junge ausgerechnet diesen Sekundenbruchteil Pech hat, vor ein Auto zu
schlingern? Wie viel wahrscheinlicher ist es, dass er wegen des Streits der
Eltern rausgelaufen ist, dorthin, wo er schon den ganzen Urlaub lang war? Bei
den Bulldogs.«
»Gerhard, du willst sagen, willst sagen …« Evi starrte
ihn an.
»Denk nach, meine Beste, denk nach!«
»Du willst sagen, Anton Erhard hat ihn überfahren und
ihn dann an die Straße gelegt? Um einen Unfall vorzutäuschen?« Sie sah Baier
mit weit aufgerissenen Augen an. »Ist es das, was auch Sie glauben?«
»Ja, das glaubte ich damals und glaub es bis heute.
Hab es aber nie beweisen können.«
»Das ist alles Spekulation, alles Hypothese!«, rief
Evi.
»Ja genau! Das ist unser Job. Unser beschissener Job.
Wir stellen Hypothesen auf, die wir dann beweisen müssen«, sagte Gerhard.
»Und genau das ist damals misslungen. Wurmt mich bis
heute.« Baier nahm einen tiefen Schluck von seinem Weißbier, und wenige
Sekunden später stand ein volles Glas da. Die Bedienung schenkte Gerhard einen
Blick, und er nickte. Bis sie mit seinem neuen Weizen da war, hatte auch er
sein Glas geleert.
»Glauben Sie denn, dass wir heute bessere Chancen
hätten, Anton Erhard das nachzuweisen?«, fragte Evi.
»Das wissen Sie doch selbst. Es gibt auch heute keine
verwertbaren Spuren. Anton Erhard wird das Maul nie aufbringen. Den können Sie
in Isolationshaft setzen oder foltern.« Baier sah Evi durchdringend an und
setzte hinzu: »Falls es so was bei uns gäbe.« Sein Blick ließ offen, was er
damit sagen wollte.
Gerhard hakte ein. »Ich glaube auch nicht, dass Erhard
heute redet. Im Gegenteil. Die Jahre machen so einen nur verstockter.«
»Aber vielleicht wegen Jacky!«, insistierte Evi. »Weil
alles wieder hochkocht. Weil die beiden Sachen doch etwas miteinander zu tun
haben müssen.«
Baier lächelte sie an. »Müssen? Weil Sie das so
wollen? Müssen, weil in der Ermittlung endlich etwas weitergehen muss?«
»Ach Baier, weil, weil … Ach, Scheiße!«
Evi schien wirklich aus dem Konzept zu sein, wenn sie
ein Wort wie »Scheiße« in den Mund nahm, dachte Gerhard. »Müssen mag ja das
falsche Wort sein, bleiben wir bei den Hypothesen. Der Unfall mit dem kleinen
Jungen hätte so passieren können. Und Jacky hat damals alles beobachtet. Sie
war auch 2005 schon in den Wäldern unterwegs. Sie hat es verdrängt, für sich
behalten, was weiß denn ich.«
»Wenn sie schon solche Angst um Tiere hatte, wenn sie
schon ein Trauma
Weitere Kostenlose Bücher