Nachtpfade
hatte, stets zu versagen bei Schutzbedürftigen, wie muss dann
erst ein totes Kind auf sie gewirkt haben?«, rief Evi.
Baier nickte und starrte in sein Glas.
»Ich sag ja, sie hat es womöglich verdrängt, aber
nicht sehr erfolgreich. Und dann kam die Chance, dieses Wissen zu nutzen.«
»Was? Du meinst, sie hat Anton damit erpresst? Aber
wieso denn auf einmal? Und wieso hat sie sich dann damit aufgehalten, seine
Bäume zu vernageln, ihm wegen der Holzgeschäfte zu drohen?«, fragte Evi, und
man sah ihr an, dass sie alles als völlig abwegig empfand.
»Nun, ich kann nur spekulieren. Sie hat die Sache mit
dem Kind wohl wirklich verdrängt. Es muss furchtbar sein, ein überfahrenes Kind
zu sehen. Da ist ein Bild, das Amok läuft in deinem Kopf, ein Bild, das du
nicht mehr loswirst, denke ich. Aber als all ihre anderen Erpressungsversuche
nichts geholfen haben, da musste sie eben zum Äußersten greifen. Dieses Wissen
war ihre letzte Chance, und seien wir mal ehrlich: Ein totes Kind ist ein
anderes Kaliber als die Holzgschäfterl!« Gerhard ließ seinen Finger über den
Rand des Glases kreisen.
»Und du meinst, es ging ihr wirklich darum, dableiben
zu dürfen? Aber mit so einer Erpressung tut sie sich doch letztlich keinen
Gefallen. Selbst wenn sie damit durchgekommen wäre. So bekommt man doch keine
Zuwendung.« Evi schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Das ist ein logisches Herangehen, aber dieses Mädchen
hat nicht logisch agiert. Sie war verzweifelt und in die Ecke getrieben. Sie
hat um Zuwendung gebettelt. Um Liebe. Um ein Zuhause. Und dann lies dir bitte
nochmals die Aussage von Amalie Jocher durch. Sie sagte: ›Dass es beim
Erhard-Bauern recht gut passt und dass sie da auf jeden Fall und unbedingt
bleiben wird.‹ Sie hat gesagt: ›Auf jeden Fall und unbedingt bleiben wird ‹.
Nicht ›will‹ ! Jacky Paulig hat gesehen, wie das Kind überfahren wurde,
und Anton Erhard erpresst. Und damals im Wald, als sie die drei Holzköpfe
getroffen hat, da hat sie Anton nicht etwa erneut wegen der illegalen
Holzgeschäfte unter Druck gesetzt und gebettelt, sondern sie hat eine neue
Karte gezogen. Eine Trumpfkarte, um ihr Bleiberecht einzufordern«, sagte
Gerhard. Er überlegte kurz und meinte dann: »Und Anton Erhard hat in der
Vernehmung die Wahrheit gesagt. Er hat zu Protokoll gegeben, dass sie mit ihm
hatte reden wollen. Weil sie unbedingt am Hof bleiben wollte. Und er habe ihr
gesagt, das ginge nicht, weil nicht genug zu tun sei.«
»Und bei der zweiten Vernehmung wegen der Nägel hat er
auch nicht gelogen. Er hat gesagt, er hätte ihr das verziehen. Hat er wohl auch.
Das hat er ihr verziehen, nicht aber, dass sie ihn wegen des toten Kindes
erpresst hat. Da geht es um ganz andere Dimensionen. Ich glaub das alles
nicht.« Evi wirkte erschüttert. Sie überlegte kurz und fuhr dann fort: »Aber
selbst wenn das geklappt hätte, das wäre doch auch nur ein Pyrrhussieg für sie
gewesen. Ungeliebt, nur geduldet.«
»Mädel, Sie sind jung, schön und haben Glück. Ihre
Familie ist intakt. Menschen mit weniger glücklicher Vorgeschichte suchen sich
immer wieder das Gleiche aus. Frauen mit aggressiven Vätern heiraten aggressive
Männer. Ungeliebte glauben, es ist ihre Schuld, unwert zu sein. Sie gehen
Beziehungen ein, die immer weiter wehtun. Ein solches Elend!« Baier sah die
beiden an.
Gerhard war überrascht. Seit Baier nicht mehr im
Dienst war, bildete er auf einmal ganze Sätze. Sein Ton war immer noch brummig,
aber es war, als hätte er nun mehr Zeit, wieder Verben einzusetzen.
»Und nun, Baier, was raten Sie uns?« Evi sah ihn an.
»Seine Schwester ist die Schwachstelle. Die müssen Sie
sich schnappen und weichkochen.«
In dem Moment kam die Bedienung mit einem tragbaren
Telefon und wollte wissen, ob hier ein Herr Weinzirl sei. Gerhard schaute
irritiert und nahm das Telefon. Es war Melanie, und was sie zu sagen hatte, war
tatsächlich mal eine Neuigkeit. Sie hatten die beiden Boote gefunden, die
jemand wohl wirklich bis in die Kirmesau verschleppt hatte. Wie und wann, das
lag im Nebel, der nun in den Morgenstunden über See und Fuizwiesen waberte. Die
Boote waren beim Heiserer auf dem Holzplatz gefunden worden, als der ein paar
Holzstapel umschichten wollte. Melanie hatte Gerhard nicht erreichen können,
weil sein Handy ausgeschaltet war und sich auf Evis Handy ebenfalls nur die
Mailbox gemeldet hatte. Da sie aber irgendwoher wusste, dass sich die beiden
mit Baier trafen, hatte ihr Baiers Frau schließlich den
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