Nachtpfade
kann ich ja in Kur gehen!
Vielleicht nach Soien, aber ich befürchte, so eine Wanne voller Moor bekommt
mir nicht. Ich habe momentan gewisse Berührungsängste bei Dingen, die auf einem
lasten.« Obwohl das witzig hätte klingen sollen, hörte Gerhard selbst, dass in
seiner Stimme etwas mitschwang. Angst – immer noch.
Evi sah ihn besorgt an. »Solltest du nicht, ich meine
…«
»Eine Therapie machen? Nein, Evi-Herz, das werde ich
sicher nicht tun. Alles braucht Zeit im Leben. Und bevor du mir einen Vortrag
übers männliche Verdrängen hältst, ich verdränge nichts. Ich stell mich dem
allen schon, aber du wirst verstehen, dass ich den Fall Jacky Paulig zu einem
Abschluss bringen will. Gerade jetzt und unter diesen Umständen. Verstehst du
das?«
Evi nickte zögernd.
»Also, meine Liebe, was war los, als ich weg war? Neue
Erkenntnisse?«
Evi seufzte. »Du Sturschädel! Also von mir aus: Wir
haben uns Bärbel Ferch, die Frau von Reinhard Ferch, mal vorgeknöpft. Das ist
das Käser-Ehepaar. Sie war tatsächlich bei ihrer Tante, sie hat auch zugegeben,
von der Affäre gewusst zu haben. Eine ziemlich unangenehme Person mit Haaren
auf den Zähnen, und ich glaube, dass sie es war, die den Mann zum Neuanfang in
Niederbayern gezwungen hat.«
»Ja und weiter? Wo war sie in der Mordnacht?« Gerhard
spürte, wie die Lebensgeister zurückkehrten. Es war gut wieder da zu sein.
»Tja, was Tantchen von Bärbel Ferch leider vergessen
hatte zu erwähnen: Die Nichte hatte zu dem Zeitpunkt Krücken, Tantchen hatte
sie in Weilheim vom Zug abgeholt, und ich glaube kaum, dass sie durch die Nacht
gehumpelt ist und Jacky ermordet hat.«
»Schade!«, rief Gerhard. »Also gehen wir es neu an: Wir müssen etwas übersehen haben oder überhört. Ich habe die Protokolle im
Krankenhaus gelesen, immer wieder! Ich habe mir die Aufzeichnungen angehört.
Und was mir aufgestoßen ist, das ist ein Satz von Marianne Erhard. Ihre ganze
Aussage ist ja sehr verhalten, sehr vage. Sie wiegelt alles ab. Und dann sagt
sie: ›Mei, was soll man da schon sehen! Schlafen doch alle. Hirsche und Rehe
wird sie gesehen haben und rollige Katzen gehört und ein paar Autos, die spät
noch rumgeistern. Ja, einige fahren ja noch spät rum. Auf dem Weg zur Disco
oder so fahren die rum.‹ Wieso diese Betonung auf die Autos, die nachts
herumfahren? Das ist doch im Prinzip völlig nebensächlich.«
»Ach, Gerhard, ich weiß nicht …«
»Es ist eine Idee, nur eine Idee. Aber ich würde gerne
mal wissen, was 2005 passiert ist, in jenem Jahr, in dem die Familie Erhard
ihren Bauernhofurlaub aufgegeben hat. Kannst du mal beim Tagblatt oder bei den
Schongauer Nachrichten im Archiv nachforschen?«
»Ja, kann ich, aber ich weiß nicht, was das bringen
soll!«
»Tu es einfach!«, rief Gerhard und empfand sich selbst
als höchst unangenehm. Vor allem, weil sich alle wirklich so rührend um ihn
gesorgt hatten. Dieses Den-Chef-Rauskehren lag ihm einfach nicht. Er war ein
hundsmiserabler Vorgesetzter. Er stürzte auf der Gratwanderung zwischen
hierarchischer Autorität und Freundschaft ab, er stürzte immer wieder von
diesem ausgesetzten Grat. Sein Führungsstil ließ sich damit beschreiben, dass
er keinen hatte. Schon gar nicht Evi gegenüber.
Als Evi sein Büro wieder betrat, hatte sie rote
Backen. Ihre zarten, faltenlosen langen Finger hielten einige
Zeitungsausschnitte. Sie wedelte damit. »Du hattest recht mit deiner Idee.
Lies.«
Gerhard schob ihr einen Hocker hin. »Erzähl mir
einfach, was drinsteht.« Er wippte mit seinem Stuhl zurück und starrte
konzentriert zur Decke.
»2005, genauer am 7.7.2005 wurde auf der Straße von
Böbing nach Schönberg ein sechsjähriger Bub überfahren.« Evi machte eine
Kunstpause. »Und wo, glaubst du, hat der Bub gewohnt?« Ohne seine Antwort, die
eh nicht gekommen wäre, abzuwarten, fuhr sie fort: »Der Bub hat zusammen mit
seinen Eltern und seiner vierjährigen Schwester Urlaub auf dem Bauernhof von
Erhards gemacht.«
Gerhard schepperte mit seinem Stuhl in Normalposition
und beugte sich zu Evi vor. »Ein Unfall?«
»Ein Unfall mit Fahrerflucht. Ich hab Baier gleich
angerufen, ich hoffe, das war dir recht. Der kann sich noch sehr gut an den
Fall erinnern. Er wollte uns im Dachs treffen.«
»Na, das ist doch eine gute Idee, dann mal auf!«
Baier saß an einem Ecktisch, war in ein Gespräch mit
dem Seniorbraumeister Uli Klose vertieft und hatte bereits für Gerhard ein
Weißbier bestellt, für Evi ein Wasser. Eine gemischte
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