Nachtprinzessin
meldete sich von ihrer Polizeidienststelle aus mit einer knappen italienischen Begrüßung, und dann übernahm ein Dolmetscher das Wort, wofür Neri außerordentlich dankbar war. Er hatte schon oft mit der deutschen Polizei zu tun gehabt, weil es Probleme mit Touristen gegeben hatte, und hatte sich dann mehr recht als schlecht mit seinen paar Brocken Englisch abgemüht, um sich zu verständigen.
Die Berliner Kripobeamtin kam sehr schnell zur Sache.
»Hören Sie«, begann sie, und der Dolmetscher übersetzte alles, was sie sagte, beinah simultan. »Wir suchen hier in Berlin einen Täter, der junge homosexuelle Männer tötet. Noch haben wir keinen Verdacht, keinerlei Hinweis auf seine Identität. Aber wir haben vom Mörder vor wenigen Tagen eine Karte mit einer verschlüsselten Botschaft erhalten. Es handelt sich um eine handelsübliche Ansichtskarte von der Insel Giglio. Mit einem Foto des Porto Giglio. In dieser Botschaft teilt er uns mit, dass er verreist sei. Wir gehen davon aus, dass der Mann, den wir suchen, vor Kurzem auf Giglio Urlaub gemacht hat oder sich immer noch auf Giglio aufhält. Unsere Frage: Gab es in letzter Zeit bei Ihnen irgendwelche Vorkommnisse, die unseren Verdacht bestätigen könnten? Können Sie uns irgendetwas dazu sagen?«
Neri brach der Schweiß aus. Er war den zweiten Tag im Amt und wurde gleich mit so einer komplizierten Kiste konfrontiert, das hieß, er musste einer deutschen Kollegin zum Klippensturz Auskunft geben, über den er wahrscheinlich weniger wusste als jeder einfache Fischer und jede Andenkenverkäuferin auf der Insel. Ganz kurz überlegte er noch, ob er Minetti bitten sollte, die Kommissarin zurückzurufen, aber dann verwarf er diesen Gedanken sofort wieder. Minetti würde schweigen und sich eher den Fuß abhacken, als irgendetwas vom Tod der beiden jungen Männer zu erzählen, damit seine geliebte Insel nicht ins Gerede kam. Dass die deutsche Kripo sich auch noch für den Fall interessieren könnte, wäre für ihn bestimmt der Supergau schlechthin.
Auf der anderen Seite machte er sich bei Minetti rasend unbeliebt, und er würde es ihm sicher bis ans Ende seiner Tage übel nehmen, wenn er jetzt die kleine Inselgeschichte weit über Italien hinaus bis hin nach Deutschland bekannt machte. Er plauderte sozusagen aus der Schule, und das war eine Todsünde auf Giglio.
»Ja, es hat auf Giglio einen Vorfall gegeben«, sagte er langsam. »Zwei junge homosexuelle Männer sind ums Leben gekommen. Noch ist nicht geklärt, ob durch Unfall, Mord oder Selbstmord.«
Seiner Meinung nach liege ein Mord durchaus im Bereich des Möglichen, fügte er hinzu, und dann erzählte er der deutschen Kollegin alles, was er über die Angelegenheit wusste, erwähnte vor allem den merkwürdigen Fund der eingespeichelten Münzen.
Susanne Knauer hörte still und hoch konzentriert zu, wagte kaum, eine Zwischenfrage zu stellen, um seinen Bericht nicht zu unterbrechen.
So etwas hatte sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet.
Als Neri geendet hatte, sagte sie leise: »Das ist ja alles äußerst interessant, Commissario, und ich glaube, dass es für uns von größter Wichtigkeit sein könnte. Würden Sie so freundlich sein, mir die Ergebnisse der DNA des Speichels an den Münzen umgehend einzuscannen und per Mail zuzuschicken?«
»Sicher kann ich das. Kein Problem.«
»Das ist furchtbar nett von Ihnen. Molte grazie.« Sie diktierte Neri ihre E-Mail-Adresse und wollte gerade das Gespräch beenden, als Neri noch etwas einfiel.
»Ach – eine Bitte hätte ich noch.«
»Ja?«
»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden. Berichten Sie mir, falls Sie die DNA weiterbringt und wenn Sie jemanden verdächtigen. Es interessiert mich einfach, und ich würde darüber gern informiert werden.«
»Aber selbstverständlich, das mache ich in jedem Fall«, sagte Susanne Knauer, verabschiedete sich und legte auf.
Neri saß auf seinem harten Bürostuhl und rührte sich nicht. Auf der kleinen Dorfstraße war wie immer reger Betrieb: Autos hupten, Vespas knatterten, Kinder schrien, und die Bauarbeiter, die gegenüber ein Dach reparierten, unterhielten sich lautstark.
Er zog noch einmal die Akte von Fabrizio und Adriano hervor. Zwei junge Italiener, Ragazzi, am Beginn ihres Lebens. Eine Liebe auf Giglio. Und dann dieser Ort auf den Klippen, hoch über dem Meer. In schwindelerregender Höhe, sodass man schon frei von Höhenangst sein musste, um überhaupt hinuntersehen zu können. Ein steinernes Plateau
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