Nachtprinzessin
und lächelte, wie es ihre Art war.
»Ich verstehe nicht ganz«, stotterte er. »Wohnen Sie hier?«
»Ja. Direkt über der Carabinieri-Station. Haben Sie mich nicht singen hören?«
Darauf konnte Neri nicht antworten. Aber er wagte den Sprung nach vorn.
»Ich wollte gerade ein bisschen spazieren gehen. Haben Sie nicht Lust mitzukommen?«
»Wohin?«
»Auf die Klippen.«
»Wunderbar! Warten Sie einen Moment auf mich? Ich gehe nur schnell nach oben und ziehe mir andere Schuhe an.«
Neri nickte, und schon war Rosa verschwunden.
Keine fünf Minuten später war sie wieder da. »Gehen wir!«, sagte sie.
Neri hielt ihr die Wagentür auf, ließ sie einsteigen und fuhr dann die Straße hinauf nach Giglio Castello.
Von Giglio gab es auf der ganzen Insel nur eine einzige Karte, die großzügig in jedem Geschäft und jedem Restaurant verteilt wurde, die in Ämtern herumlag und eben auch bei den Carabinieri an der Wand hing. Wer mit dieser armseligen Karte nicht zurechtkam, hatte entweder ein Navigationssystem oder einfach Pech. Neri hatte es nicht ausprobiert, aber er bezweifelte, dass ein Navigationssystem auf diesem Fleckchen Erde hinter den Bergen bei den sieben Zwergen überhaupt funktionierte. Doch der Kollege Pietro, der sich momentan auf den Malediven den Pelz verbrennen ließ, hatte auf der Karte im Büro ganz genau die Stelle eingezeichnet, von der aus die beiden Jugendlichen in den Tod gestürzt waren.
Und diese Karte hatte Neri jetzt in der Hand.
Rosa wusste mittlerweile, welchen Ort Neri suchte, und sie fand es äußerst spannend, fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als sie mit ihren Freunden Schnitzeljagden auf der Insel veranstaltet hatte. Insofern kannte sie sich auf den schmalen Wegen ziemlich gut aus.
Selbst jetzt am späten Nachmittag brannte die Sonne mit unvorstellbarer Kraft, der Himmel war wie ein durchsichtiger Diamant und das Meer dunkelblau und spiegelglatt. Seine Abreise, die ja noch in weiter Ferne lag, stand Neri wie ein Alb vor Augen, und er hoffte insgeheim, dass er so einen windstillen Tag wie diesen erwischen möge, um die für ihn auf jeden Fall wackelige Rückfahrt mit der Fähre irgendwie zu überleben. Dennoch blieb ihm die gewaltige Schönheit dieses Blickes über das Meer nicht verborgen und machte ihn stumm.
So liefen sie ungewöhnlich lange nebeneinander her, bis Rosa fragte: »Woher kommen Sie, Commissario?«
»Bitte, nennen Sie mich Donato.«
»Gern. Ich meine, wo wohnen Sie, wenn Sie nicht auf Giglio sind?«
»In Ambra, in der Nähe von Bucine. Circa dreißig Kilometer von Montevarchi und ungefähr fünfundvierzig Kilometer von Arezzo entfernt.«
»Ah ja.« So genau hatte Rosa das eigentlich gar nicht wissen wollen.
»Haben Sie eine Familie?«
»Nein. Ich bin allein.« Im selben Moment, als er dies sagte, erschrak Neri selbst über seine Antwort. Ihm war nicht klar, warum er gelogen hatte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Das heißt, ich habe einen Sohn«, erklärte er, »aber der ist schon ausgezogen, und meine Frau und ich leben getrennt.« Ihm wurde bewusst, dass es schlimm um seine Ehe bestellt sein musste, wenn er bereits anfing, solche Dinge zu erzählen.
Rosa nickte. »Es ist unglaublich, aber egal, wo du hinschaust, richtig glücklich ist niemand. Wenn die Leute gefragt werden, sagen sie alle ›va bene‹, ›grazie tutto bene‹ und was weiß ich nicht alles, aber wenn du mal wirklich hinter die Fassaden guckst, ist alles kaputt.«
Neri hatte gedacht, Rosa würde immer nur lächelnd mit ungeheurer Leichtigkeit und vollkommen unbelastet durchs Leben tanzen, und wunderte sich über die Töne, die sie hier anschlug.
»Und was ist mit dir?«
»Ich bin Witwe.« Sie blieb stehen und sah ihn an, und jetzt lächelte sie wieder. »Was für ein schreckliches Wort, ich weiß. Es hört sich an, als wäre ich schon achtzig. Aber so ist es nun mal. Mein Mann war Fischer. Er ist wie alle tagaus, tagein und jahrelang mit diesen winzigen Schrippen, diesen besseren Ruderbooten mit Außenbordern, aufs Meer hinausgefahren und eines Tages einfach nicht mehr zurückgekommen. Er sparte für ein größeres Boot, aber er hat es nicht mehr rechtzeitig geschafft. Das Meer hat ihn einfach verschluckt. Eine Welle hat ihn umgeworfen, und dann war es vorbei. Seine Leiche wurde erst vier Wochen später angeschwemmt.«
»Oh mein Gott!«
»Tja, das war vor zehn Jahren. Kinder hatten wir noch nicht, weil wir erst das größere Boot und dann Kinder haben wollten. Hätten wir
Weitere Kostenlose Bücher