Nachtprinzessin
damit beschäftigen.«
Neri ging nicht darauf ein. »Wenn du dich erinnerst, haben wir da oben eine goldene Geldscheinklammer mit den Initialen M. v. S. gefunden. Wir könnten nun natürlich versuchen herauszufinden, ob irgendein Tourist mit den Initialen M. v. S. hier Urlaub gemacht hat. Wir könnten sämtliche Hotelreservierungen durchsehen und auch die Fährbuchungen im Internet …«
»Aber wir können es auch bleiben lassen!« Minetti wurde bereits heftiger. »Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dein mysteriöser Fremder, wenn er wirklich ein Mörder sein sollte, hier unter seinem richtigen Namen eingemietet hat. So blöd wird er nicht sein. Also, was soll das alles?«
Neri verstummte. Der Chef hatte gesprochen.
Eine unangenehme Stille entstand, weil weder Neri noch Minetti wussten, was sie jetzt sagen sollten.
Zum Glück kam wenige Minuten später Rosa an den Tisch und brachte die Vorspeise. Sie lächelte Neri verhalten zu, wirkte aber sehr geschäftig und sagte nichts.
Auch die Vorspeise aßen sie schweigend.
»Diese verfluchten Ragazzi!«, stieß Minetti plötzlich zwischen den Zähnen hervor, stand auf und ging zur Toilette.
Nicht die Ragazzi sind schuld, sondern ein Wahnsinniger, der sie umgebracht hat, dachte Neri. Minetti bringt da was durcheinander, weil es ihm nicht in den Kram passt.
Rosa hatte nur auf den Moment gewartet, wo Neri allein war, und kam an den Tisch.
»Sehen wir uns heute Nacht?«, flüsterte sie.
»Natürlich! Ich warte auf dich!«
»Gut!« Sie huschte wieder davon.
Die letzten drei Nächte hatten sie miteinander verbracht, und Neri hatte nicht vor, auf dieser Insel irgendwann einmal allein zu schlafen. Er war zwar nicht in Rosa verliebt, aber er mochte sie sehr, sie tat ihm gut, und er genoss es, mit ihr zusammen zu sein, weil er sich so lebendig fühlte wie schon lange nicht mehr.
Sie hatte gerade noch die letzte Fähre nach Giglio bekommen. Es war ein wunderbares Gefühl, in weniger als einer Stunde Neri zu überraschen, der mit allem rechnete, aber niemals mit ihrem Eintreffen auf der Insel. Der Streit vor seiner Abreise tat ihr leid. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen, aber die wenigen Telefonate, die er von Giglio aus mit ihr geführt hatte, waren knapp und sachlich gewesen und taten ihr irgendwo in der Seele weh. Wahrscheinlich war er genauso frustriert über diese Urlaubsvertretung wie sie und trauerte ihrem gemeinsamen Urlaub ebenso wie sie hinterher.
Oma hatte wieder angefangen, nachmittags zu Silena zu gehen, um mit ihr zusammen ein paar Gläschen Weißwein zu trinken, wie sie es auch schon früher oft getan hatten. Aus irgendeinem Grund waren diese Treffen erst aus der Mode und schließlich ganz in Vergessenheit geraten, aber jetzt waren Silena und Oma wieder ein Herz und eine Seele. Gabriella war auf die Idee gekommen, Silena zu fragen, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn Oma ein paar Tage, wahrscheinlich nur übers Wochenende, bei ihr wohnen und sie ein achtsames Augen auf Oma werfen könne. Silena war nicht nur einverstanden gewesen, sondern von dem Vorschlag sogar richtig begeistert.
Und nun stand Gabriella an Bord der Fähre und fühlte sich so frei wie schon lange nicht mehr.
Es war keine gemütliche Überfahrt. Der Wind hatte jetzt gegen Abend noch einmal aufgefrischt und wehte stürmisch mit Windstärke sechs, in Böen acht. Immer mehr Passagieren wurde übel, die Toiletten waren ständig belegt, so manch einer stand an der Reling und übergab sich ins Meer. Die Fähre rollte und stampfte bedenklich, hielt aber unerschütterlich an ihrem Kurs und ihrem Fahrplan fest.
Gabriella hatte mit den heftigen Schiffsbewegungen keine Probleme. Die stürmische Fahrt passte zu ihrer Stimmung, und sie bedauerte, dass die Überfahrt nach Giglio nur eine gute Stunde und nicht mehrere Tage dauerte. Von einer weiten Schiffsreise hatte sie immer geträumt, aber das war mit Neri leider unmöglich, der schon seekrank wurde, wenn er sich nur ein Foto von einem auf den Wellen tanzenden Schiff ansah.
Sie spürte Sehnsucht nach ihm. Ein Gefühl, das sie schon ewig nicht mehr gehabt hatte, und die Vorfreude auf die Überraschung in seinem Gesicht, wenn sie ihm plötzlich gegenüberstand, wurde immer größer.
Allmählich ging die Sonne unter. Mit einem Tempo, dem man zusehen konnte, steuerte der orangerote Ball auf den Horizont zu. Als die Sonne das Meer erreichte, zogen einige der Gäste im Lokal ihre Kameras hervor, und kaum hatten sie einige Fotos aus
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